Melmoth der Wanderer
versicherte, daß alle, wie sie da saßen, samt und sonders noch keinen solchen Sturm erlebt hätten, wobei sie, in den Pausen zwischen den wütenden Stößen dieses Orkans, ein zitterndes Stoßgebet ums andere vor sich hinstöhnten, zum Gedenken all derer, die eine solche Schreckensnacht »draußen auf See« verbringen mußten. Und die Nachbarschaft zu dem, was die Seeleute eine klippenstarrende Küste nennen, verlieh ihrem angstvollen Beten einen schrecklichen Ernst.
Melmoth hatte jedoch bald begriffen, daß die Gemüter um ihn noch von einer anderen Furcht beschwert waren als nur von jener, die das Sturmeswüten in ihnen hervorgerufen. Vielmehr erschien es der kürzlich erfolgte Tod seines Oheims, verbunden mit dem ruchbar gewordenen Besuch jener geheimnisvollen Erscheinung zu sein, von deren Existenz alle Versammelten unerschütterlich überzeugt waren, was in ihren Köpfen sich nun mit der Ursache oder auch Wirkung solchen Unwetters verband. Derlei angstvolle Mutmaßungen wurden im Flüsterton so lange ausgetauscht, bis sie auch an die Ohren des ruhelos auf dem zersprungenen Steinboden der Küche auf und ab schreitenden Melmoth drangen.
»Da geht er hin in diesem Wüten«, sagte plötzlich eine der Vetteln, indem sie die Pfeife aus ihrem Mund nahm und ohne Erfolg versuchte, sie an der vom Sturm auseinandergeblasenen Aschenglut wieder zu entzünden. »Da geht er hin in diesem Wüten.«
»Er kommt zurück«, schrie eine andere dieser Sibyllen. »Er kommt zurück, er findet keine Ruhe! Er geistert klagend umher, weil er noch etwas auf dem Herzen hat, was er bei Lebzeiten keinem mehr hat anvertrauen können! Gott sei uns gnädig!« fügte sie hinzu, um gleich danach in den Rauchfang zu schreien: »So sag uns schon, was dich quält und hör auf mit dem Sturm, ja?« – Der aber kam nur mit um so stärkerer Wut den Kamin herabgefahren, so daß die alte Hexe schaudernd zurückfuhr.
»Wenn es das ist, was du haben willst – oder das und das «, rief ein junges Weib, von dem Melmoth bisher keine Notiz genommen hatte, »dann sollst du’s haben!« Rief’s und riß sich eilends die Papierwickel aus dem Haar, um sie ins Feuer zu schleudern. Das brachte Melmoth wieder jene lächerliche Geschichte in den Sinn, welche er am Tage vorher über das Mädchen gehört hatte, die, wie sie’s nannte, das »Pech« gehabt hatte, ihr Haar mit alten, längst ungültigen Familienpapieren in Locken zu drehen, so daß sie sich nun einbildete, jene, die ihr »ein so grausiges Gerumpel über den Kopf geschickt«, veranstalteten dies einzig deshalb, weil sie noch auf sich herumtrug, was Rechtens doch den Verstorbenen gehörte. So schrie sie denn, dieweil sie einen Papierwickel nach dem anderen in die Flammen beförderte: »Da, nehmt nur, da, nur hört um Christi willen auf damit, laßt es genug sein! Jetzt habt ihr, was ihr wolltet – seid ihr nun fertig?«
Das Lachen, welches Melmoth darüber befiel, wurde alsbald durch einen Knall gezügelt, welcher inmitten des Tobens deutlich zu vernehmen war. »Still! So gebt doch Frieden! Dies war ein Signalschuß! Da draußen ist ein Schiff in Seenot!« Jedermann hielt inne und strengte sein Gehör an. Wir haben ja die Meeresnähe von Melmoths Haus bereits erwähnt. Die enge Nachbarschaft hatte die Hausgenossen längst mit allen Schrecken des Schiffbruchs und Ertrinkens vertraut werden lassen, doch muß zu ihrer Ehre gesagt sein, daß sie derlei Notsignale stets als eine Aufforderung als einen inständigen, unabweislichen Hilferuf an ihre Menschlichkeit empfanden.
Der Sturm hatte eine Atempause eingelegt, so daß nun die tiefe und leere Stille angstvoller Erwartung sich breitmachte. Und diese Stille wurde von einem weiteren Böllerschuß unterbrochen – diesmal unmißverständlich.
»Jawohl, das ist ein Kanonenschuß«, rief Melmoth. »Da draußen ist ein Schiff in Seenot!« Dies gesagt, stürzte er auch schon aus der Küche, wobei er den Männern zurief, ihm zu folgen.
Während diese überall im Haus die hundert Röcke, Stiefel und Hüte ihres verstorbenen Gebieters nach passenden Stücken durchwühlten, während ein anderer einen großen Überrock vom Fenster herabriß, wo er als Ersatz für die mangelnden Scheiben und Fensterläden gedient hatte, während ein dritter eine Perücke von dem Besenstiel fegte, an welchem sie als Staubfetzen gehangen, und ein vierter sich mit einer Katze sowie deren Brut um den Besitz jenes Stiefelpaares balgte, welches das Katzenvieh als sein Domizil
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