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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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auserwählt hatte; während dies sich und noch mehr ereignete, war Melmoth in das höchstgelegene Gemach des Hauses hinaufgestiegen. Das Fenster war von dem Sturm eingedrückt worden. Wäre es Tag gewesen, so hätte man von hier aus das Meer und die Küste überblicken können. Melmoth beugte sich weit hinaus, um den Strand entlang zu spähen, wobei er angstvoll und mit angehaltenem Atem lauschte. Die Nacht war von undurchdringlicher Schwärze, aber weit draußen auf See konnte sein durch die Sorge geschärfter Blick etwas wie ein Licht wahrnehmen. Ein neuer Windstoß warf den Beobachter ins Zimmer zurück, doch im nächsten Moment stand er wieder am Fenster und sah ein schwaches Aufblitzen, dem der Hall eines Schußes folgte.
    Mehr war nicht nötig. Schon in den nächsten Sekunden hastete Melmoth den kurzen Weg zur Küste hinunter, welchem auch die anderen so schnell wie möglich folgten, obschon der Sturm mit solcher Heftigkeit gegen sie antobte, daß sie nur langsam vorankamen, wobei ihnen dies Tempo durch ihre Besorgnis noch langsamer erschien, als es ohnedies schon war.
    »Allmächtiger!« rief Melmoth aus, der sich an der Spitze des Zuges befand. »Welch eine Nacht! Und welch ein Schauspiel! – Hebt die Laternen hoch! Hört ihr’s schon schreien? – Ruft zurück, sagt ihnen, daß Hilfe kommt und Hoffnung! – Halt«, fügte er hinzu, »laßt mich erst noch die Klippe dort erklimmen – von dort aus müssen sie mich hören!«
    Verzweifelt kämpfte er sich durch das schwappende Wasser, während die Gischt der in einiger Entfernung gegen einen Felsen anbrandenden Wogen ihn zu ersticken drohte. So erreichte er seinen Aussichtspunkt und erhob, von seinem Erfolg ermutigt, mit größter Kraft seine Stimme. Jedoch drang sie inmitten der Wucht dieses Sturmes nicht einmal recht an seine eigenen Ohren, und wenn, dann war ihr Klang kraftlos und klagend, viel eher einem kummervollen Seufzer vergleichbar, denn einem aufmunternden Zuruf der Hoffnung. In eben diesem Moment brach durch die gleich den versprengten, in regelloser Flucht befindlichen Resten einer geschlagenen Armee heranjagenden Wolken der Mond mit der schrecklichen Plötzlichkeit eines Blitzes hervor, und vor Melmoths Blicken lag das Schiff in all seiner Gefahr. Es hing zwischen den Klippen und schlug in einem fort gegen den Felsen, über welchen die Gischt der Brecher bis zu einer Höhe von dreißig Fuß heraufspritzte. Das Deck war schon zur Hälfte von den Fluten überspült, nichts weiter als ein Rumpf, dessen Takelwerk zu Fetzen zerrissen, dessen Hauptmast weggebrochen war, und mit jeder neu hereinbrechenden Sturzsee konnte Melmoth deutlich die Todesschreie derer vernehmen, welche von dem Wrack hinweggespült wurden, oder auch das Angstgebrüll derer, die, an Geist wie Körper gleichermaßen erschöpft, ihren Griff, daran ihre Hoffnung wie ihr Leben hing, sich lockern fühlten, wissend, daß der nächste Aufschrei schon ihr letzter sein werde.
    Jetzt war schon die gesamte Küste auf den Beinen, jeder Felsen, jedes Kliff war von hilflosen Gaffern besetzt. Das Ganze glich einer Schlacht, welche der Ozean dem festen Land, die Hoffnung der Verzweiflung lieferte. Und keine wirksame Hilfe konnte geleistet werden, kein Boot konnte bei diesem Sturm auslaufen, aber dennoch erschollen von Kuppe zu Klippe bis zuletzt die aufmunternden Zurufe, jene fürchterlichen Schreie, welche denen da draußen ankündigten, daß die Rettung ganz nahe sei – und doch nimmermehr möglich. Die nach allen Seiten hochgehaltenen Laternen zeigten den vom Schicksal Geschlagenen an, daß die Küste von Leben überquoll, welches einzig durch die tobenden, unpassierbaren Wogen von ihnen getrennt war. Taue wurden unter Hilfe verheißenden, trostreichen Zurufen geschleudert und auch von so mancher kältestarren, entnervten und verzweifelten Hand ergriffen, die vorher bloß Wasser gespürt hatte und nun ihren Griff lockerte, noch einmal über dem versinkenden Kopf geschwenkt und danach nimmermehr gesehen wurde. Dies war auch der Moment, in welchem Melmoth aus seiner Schreckensstarre erwachte, und, um sich blickend, all dieser Hunderte von besorgten, ruhelosen und mit Rettungsversuchen beschäftigten Menschen ansichtig ward. Und obschon alles offensichtlich vergebens war, hatte der Anblick doch etwas herzwärmend Tröstliches an sich.
    »Wieviel an Gutem ist doch in den Menschen«, rief er aus. »Wie tritt’s zutage, hervorgerufen durch die Nöte ihrer Mitmenschen!« Doch war da weder Zeit

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