Melmoth der Wanderer
noch Lust, jenes Etwas, das er »das Gute« genannt, in die Teile zu zerlegen, daraus es sich zusammensetzte: in die Neugier, die große Erregung, den Stolz auf die eigene Kraft oder auch die ziemliche Gewißheit, in Sicherheit zu sein. Nein, für derlei Überlegungen gab es in der Tat nicht Muße genug, denn eben jetzt entdeckte Melmoth, nur wenige Ellen über sich und auf demselben Felsen, eine Gestalt, welche bloß dastand, ohne jede Anteilnahme, ohne Mitgefühl oder Schrecken, lautlos und ohne irgendwelche Hilfsbereitschaft zu zeigen. Melmoth selbst konnte seinen Halt auf dem schlüpfrigen, unter dem Ansturm der Elemente erbebenden Felsen nur unter größter Anstrengung behaupten. Jener Gestalt aber, welche noch um Etliches höher postiert war, schien das Sturmeswüten so wenig anhaben zu können wie das Schauspiel dort unten. Melmoths Mantel spottete aller Mühe und flatterte fetzengleich in dem Toben – von des Fremden Kleidern jedoch schien keine Faser im Sturm bewegt. Dieser Umstand erstaunte unseren Freund indes nicht so sehr, als es die zur Schau getragene Gleichgültigkeit gegenüber all jenen Schreckensszenen tat. Sie war es, welche ihm den Aufschrei entrang: »Allmächtiger! Ist’s möglich, daß irgendein Wesen, welches menschliche Gestalt hat, so unbewegt hier stehen sollte, ganz ohne irgendwelche Anstalten zu treffen, ganz ohne irgendein Gefühl für jene dem Verderben geweihten, bedauernswerten Geschöpfe an den Tag zu legen?«
Es erfolgte keine Antwort, oder aber der Sturm hatte ihre Laute hinweggeblasen. Jedoch nur wenige Augenblicke danach vernahm Melmoth deutlich die folgenden Worte: »Mögen sie doch allesamt verderben.« Melmoth blickte zu der Gestalt empor, welche noch immer so unbewegt und mit über der Brust verschränkten Armen auf ihrem Felsen verharrte. Den einen Fuß vorgesetzt, starrte der Fremdling wie zum Hohn auf die weißlich und hoch emporbrandenden Wogen, und sein starres, ins Profil gewandtes Antlitz schien in dem vom Sturm unruhigen, trügerischen Mondlicht die Szene mit einem Ausdruck zu betrachten, welcher so furchtbar wie abstoßend und unnatürlich war. In diesem Moment brach eine ungeheure Sturzflut über das Deck des Schiffswracks herein und entpreßte allen dem Schauspiel Beiwohnenden einen Aufschrei des Entsetzens. Jedermann hatte das Gefühl, jetzt den Todesschrei der Opfer zu wiederholen, deren leblose, zerschlagene Körper gleich darauf vor die Füße der Zuschauer geschwemmt werden mußten.
Sobald jener Aufschrei verklungen war, vernahm Melmoth ein Lachen, welches ihm das Blut in den Adern gefrieren machte und von jener Gestalt über ihm ausging. Jetzt erst durchzuckte ihn wie ein Blitz die Erinnerung an jene Nacht in Spanien, da Stanton zum erstenmal diesem sonderbaren Wesen begegnet war, dessen vom bösen Zauber besessenes Dasein, »spottend der Zeit und des Raumes«, auf so schicksalhafte Weise mit des Reisenden Leben verbunden gewesen: an jene Nacht, da Stanton erstmals den dämonischen Charakter des Fremden an jenem Lachen erkannt hatte, mit welchem dieser den Anblick der vom Blitz erschlagenen Liebenden begrüßte. Der Nachhall solchen Lachens machte Melmoth die Ohren klingen, und er war nun überzeugt, es in dem nahebei stehenden Fremden mit eben jenem rätselhaften Wesen zu tun zu haben. Sein Geist, noch von der kürzlichen, so anstrengenden und bestürzenden Lektüre gleichermaßen erhitzt und verdunkelt, wie dies auch der Atmosphäre unter der auf ihr lastenden Donnerwolke widerfährt, hatte nun nicht mehr die Kraft, zu fragen, zu mutmaßen oder gar die Dinge abzuschätzen. So machte Melmoth sich daran, den Felsen hinaufzuklimmen – die Gestalt stand ja nur wenige Fuß über ihm –, der Gegenstand seiner Tag- und Nachtträume war endlich innerhalb seiner geistigen wie körperlichen Reichweite, ja, war zuletzt fast zu greifen.
Schwer atmend wegen der Gewalt des Sturmes, der Vehemenz eigener Anstrengung sowie auch die Schwierigkeit solchen Unterfangens, fand Melmoth sich am Ende Brust an Brust und Aug’ in Auge mit dem Objekt seiner Verfolgung wieder, als plötzlich unterm Griff ein Stein ihm nachgab, der keinem Kind ein Leid zufügen mochte, doch jetzt und hier solchem Verzweiflungsgriffe nicht länger standhielt: Melmoth fiel zurück, das Toben jenes Abgrundes unter sich, aus welchem sich’s wie tausend Arme reckte, den Stürzenden zu fangen, zu verschlingen. Der spürte nicht den Wirbel solchen Sturzes, ward nur der Woge, die ihn aufnahm, inne,
Weitere Kostenlose Bücher