Melmoth der Wanderer
Aufenthalt weigerte ich mich, auch nur den kleinsten Bissen zu mir zu nehmen, da auch mein gespenstischer Gefährte alle Nahrung zurückwies. ›Nötigt mich nicht länger‹, so sprach ich, ›ihr seht doch, daß auch mein Bruder nichts essen mag! Ach, ich muß für ihn um Vergebung bitten, dieweil heute ja ein Fasttag ist, – dies ist sein wahrer Beweggrund, seht ihr denn nicht, wie er euch seine Kutte weist? – Das sollte euch genügen!‹ Recht sonderbar an diesem Vorfall ist, daß das Essen in jener Herberge zufällig giftig gewesen, und zwei meiner Krankenwärter an seinem Genuß verstarben, noch ehe sie Madrid erreicht hatten. Ich erwähne dies alles bloß, um Dir den beherrschenden Einfluß vor Augen zu führen, welchen Deine Person sowohl über meine Phantasie als auch über meine Zuneigung gewonnen hatte.
Sobald ich wieder bei Sinnen war, galt meine erste Frage Dir. Man hatte dies vorausgesehen, und so hatten meine Eltern, welche solcher Unterredung auszuweichen wünschten, sogar auf Grund meines hitzigen Temperaments davor zitterten, alles dem Beichtvater überlassen. Dieser hatte es denn auch auf sich genommen, doch auf welche Weise er sich seiner Aufgabe entledigte, sollst Du sogleich erfahren. Bei unserer ersten Zusammenkunft nämlich nahte er sich mir mit Glückwünschen, meine Genesung betreffend, gedachte mit vielem Bedauern der Beschränkungen, welchen ich in jenem Kloster unterworfen gewesen war, und gab mir jede Zusicherung, daß meine Eltern mir von Stund’ an das Haus zum wahren Paradies machen würden. Nachdem dies eine Zeitlang so weitergegangen, fragte ich ihn: ›Und was habt Ihr mit meinem Bruder gemacht?‹
›Er lebt ein Leben in Gott‹, antwortete der Beichtvater, indem er sich bekreuzte. Ich hatte augenblicks verstanden und eilte an ihm vorbei, noch ehe er geendet hatte. ›Wohin so rasch, mein Sohn?‹
›Zu meinen Eltern!‹
›Deinen Eltern? – Du kannst sie im Moment nicht sehen.‹
›Ich habe aber den festen Wunsch, sie zu sehen. Hört auf, mir Vorschriften zu machen – erniedrigt Euch nicht selbst durch eine so schandbare Demütigung‹, entgegnete ich ihm, da er Anstalten machte, eine flehende Haltung einzunehmen. ›Ich will meine Eltern sehen! Verschafft mir unverzüglich Zutritt zu ihnen, oder zittert in Zukunft um Eure weitere Position in diesem Haus!‹
Solche Worte machten ihn erbeben. Nicht, daß er meinen Einfluß wirklich gefürchtet hätte, doch er fürchtete meine Leidenschaftlichkeit. In diesem Moment wurde ihm all das, was er mir beigebracht aufs bitterste heimgezahlt. Während er meine Leidenschaften angestachelt hatte, war er der Meinung gewesen, sie auch allzeit in der Hand zu haben. Doch dreimal Wehe über jene, die, indem sie den Elefanten nur lehren, seinen Rüssel gegen ihre Feinde zu gebrauchen, darüber vergessen, daß der nämliche Rüssel den Treiber mit einem einzigen Schlag von seinem Sitz fegen kann, auf daß er unter den Sohlen des Wütenden zu Mus zerstampft werde! Genau dies entsprach aber dem Verhältnis, in welchem der Beichtvater nun zu mir stand. Ich beharrte darauf, augenblicklich vor meinem Vater zu erscheinen. Der Beichtiger aber legte sich ins Mittel, ja beschwor mich, davon abzustehen. Als letzte hoffnungslose Ausflucht rief er mir seine beständige Nachsicht ins Gedächtnis, gemahnte er mich daran, wie er doch stets meiner Leidenschaftlichkeit geschmeichelt hätte. Meine Antwort darauf war nur kurz, doch ach, ich wünschte, sie prägte sich zutiefst in die Seele solcher Erzieher und solcher Priester ein! ›Und genau das‹, sagte ich, ›genau das hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin! Führt mich jetzt unverzüglich zu meines Vaters Gemach, oder ich will Euch mit Fußtritten bis vor dessen Tür traktieren!‹
Bei solcher Drohung, welche ich, wie er wohl sehen mußte, durchaus fähig war in die Tat umzusetzen, erzitterte er. Und ich bekenne, daß beides: sein körperliches wie auch sein geistiges Unvermögen meine Verachtung für ihn vollständig machte. So kroch er nun vor mir her bis zu jenem Gemach, auf dessen den Garten überschauendem Balkon mein Vater und meine Mutter Platz genommen hatten.
Ich wandte mich an meinen Vater: »Senor, ist es wahr, daß Ihr meinen Bruder zum Mönch gemacht habt?‹
Mein Vater zauderte, doch sagte er schließlich: ›Ich dachte, der Beichtvater sei damit betraut, über diesen Gegenstand mit dir zu sprechen.‹
›Vater, was hat ein Beichtiger mit dem zu schaffen, was nur die Eltern
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