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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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bezichtigte ich meinen Vater offen der Parteilichkeit für Dich, verletzte ich meine Mutter, indem ich ihr vorhielt, was sie verbrochen hatte, tyrannisierte ich die Dienstboten, kurz, ich war der Schrecken und die Plage der gesamten Haushaltung geworden.
    Wenige Tage nach unserem ersten Zusammentreffen wurde auch ich in ein Kloster gebracht. Der Beichtvater hatte die Notwendigkeit betont, alles Augenmerk auf meine weitere Erziehung zu richten. Meine Eltern aber stimmten allem zu, was er verlangte. Seltsamerweise erklärte auch ich mich einverstanden.
    Es war indes ungewöhnlich genug, daß Du, der Du der Gegenstand meines eingefleischten Hasses gewesen, mir mit meinem Aufenthalt im Kloster zum Objekt meiner Teilnahme wurdest. Hatte ich früher Deine Lage vom Standpunkt des Hochmuts aus gesehen, so betrachtete ich sie nunmehr von dem der Erfahrung am eigenen Leibe, Mitleid, natürliches Empfinden, was immer es auch gewesen sein mag, sie wurden mir nach und nach zur Obliegenheit. Meine Einbildungskraft nahm immer mehr zu. Schon sah ich mich als Deinen künftigen Beschützer, stellte mir vor, die Ungerechtigkeit der Natur wiedergutzumachen, indem ich Dir Hilfe gewährte und Dich erhöhte. So bildete ich mir ein, Dich zu dem Bekenntnis zu zwingen, Du verdanktest mir mehr als den Eltern, und so stürzte ich mich mit meinem ungeschützten bloßen Herzen auf Deine Dankbarkeit – und all das einzig um meiner Zuneigung willen. Ich vermeinte zu hören, wie Du mich ›Bruder‹ nanntest, und gebot Deinen Worten Einhalt mit der Bitte, mich doch ›Wohltäter‹ zu nennen. Meine Wesensart, von Natur dem Stolz, dem Edelmut und der Hitzigkeit zuneigend, hatte sich noch längst nicht von dem Einfluß des Beichtvaters frei gemacht, doch führte mich jede Anstrengung, welche ich in dieser Sache unternahm, mit unbeschreiblichem Antrieb näher zu Dir. Vielleicht ist das ganze Geheimnis in den Zügen meines Wesens zu suchen, welche sich schon immer gegen jedes Diktat aufgelehnt haben, wie ich ja allzeit darauf aus war, mir alles Wissenswerte selber anzueignen und meine Neigung nur mit selbstgewähltem Gegenstand zu befeuern. Überdies lehnte ich mich immer mehr gegen die Regeln des Klosterlebens auf. Zeiten gab es, da ich mich all den Weisungen mit einem Eifer unterwarf, welcher die anderen für meine Gesundheit fürchten ließ, – und dann wieder Abschnitte, da auch die härtesten Strafen nicht ausreichten, mich der gewöhnlichen Hausordnung gefügig zu machen.
    So wurde man denn allmählich meiner Aufsässigkeit, meines Ungestüms und meines regelwidrigen Verhaltens müde und schrieb an den Beichtvater, er möge mich aus dem Kloster herausnehmen. Bevor dies jedoch geschehen konnte, wurde ich von einem hitzigen Fieber befallen. Man erwies mir unermüdliche Fürsorge, doch irgend etwas in meinem Gemüt spottete aller Bemühungen. Reichte man mir mit der gewissenhaftesten Pünktlichkeit die Arznei, so sagte ich bloß: ›Laßt meinen Bruder sie mir geben, von seiner Hand würde ich sie nehmen, und wäre sie das pure Gift – so tief habe ich ihm Unrecht getan.‹ Ertönte die Glocke zur Matutin oder zur Vesper, so fragte ich nur: ›Schickt man sich an, meinen Bruder zum Mönch zu machen?‹ So umwickelten sie die Glocke. Allein, sobald ich deren gedämpften Klang vernahm, rief ich aus: ›Nun läutet ihr zu seinem Begräbnis, und ich – ich bin sein wahrer Mörder!‹
    Solche beständig wiederholten Ausrufe entsetzten die Klostergemeinschaft, da sie sich an deren Bedeutung ja nicht schuldig fühlen konnte. So wurde ich in einem Zustand des Fieberwahns zurück nach Madrid und in den Palast meines Vaters geschafft. Auf der Fahrt bildete ich mir ein, Dich neben mir im Wagen sitzen, bei jedem Aufenthalt mit mir aussteigen und mich überall hin begleiten zu sehen. Sobald man mich wieder in dem Wagen unterbrachte, vermeinte ich, es geschähe mit Deiner Hilfe, und dieser Eindruck war so lebhaft, daß ich jedesmal zu den Wärtern sagte: ›Laßt nur, mein Bruder stützt mich ja!‹ Fragten sie mich des Morgens, wie ich denn die Nacht verbracht hätte, so antwortete ich: ›Aufs beste, Alonzo hat ja die ganze Zeit an meinem Bett gewacht.‹ Und ich bat meinen halluzinierten Gefährten, in seiner Fürsorge fortzufahren. Waren aber die Kissen zu meiner Zufriedenheit aufgeschüttelt und zurechtgelegt, so sagte ich: ›Wie gut doch mein Bruder zu mir ist – wie sehr auf mich bedacht –, allein, warum spricht er niemals zu mir? ‹ Bei einem

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