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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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Hinterherblicken erkannte ich seine Gestalt als die des Klosterpförtners. Ich wußte nur zu gut, welches Wagnis es für ihn bedeutete, mir dieses Schreiben zuzustecken, denn es gehörte zu den unverbrüchlichen Gesetzen des Konvents, daß sämtliche Briefschaften, ob nun von den Zöglingen, Novizen und Mönchen geschrieben oder an diese gerichtet, zuerst von dem Pater Superior gelesen werden mußten, und mir war bisher kein Fall einer Übertretung dieses Gebotes zu Ohren gekommen. Da der Mond mit genügender Helligkeit schien, begann ich gleich mit der Lektüre.

     
    Mein teuerster Bruder! (Allmächtiger, wie diese Worte mich aufwühlten!)
    Ich sehe Dich bei dieser Anrede aufbegehren, allein, ich flehe Dich um unser beiden willen an, bleibe ruhig und nimm diese Zeilen mit aller Aufmerksamkeit in Dich auf! Jeder von uns ist das Opfer elterlichen und geistlichen Betrugs geworden. Den Eltern müssen wir dies vergeben, weil sie ja selbst ein Opfer des letzteren sind. Der Beichtiger hat ihr Gewissen in seiner Hand und ihr wie unser Schicksal zu seinen Füßen. Ach, mein Bruder, welch eine Geschichte habe ich Dir zu eröffnen! Man hat mich auf Geheiß jenes Beichtvaters, dessen Einfluß über die Domestiken nicht weniger unbegrenzt ist als über deren unseligen Herrn, in vollständiger Feindschaft zu Dir als einem Menschen aufgezogen, welcher mich meiner natürlichen Rechte zu berauben und durch sein unrechtmäßiges Eindringen die Familienehre in den Kot zu zerren trachtet. Schon von Kindesbeinen an ward mir nur Haß gegen Dich und Furcht vor Dir ins Herz gepflanzt: als einen Feind sollte ich Dich hassen, als einen Betrüger Dich fürchten lernen. Dies und nichts andres war des Beichtvaters Plan. Denn er sah den Einfluß, welchen er auf meinen Vater und meine Mutter ausübte, für zu gering an, als daß sein Ehrgeiz nach häuslicher Macht auf die Dauer hätte gewährleistet sein, oder die Hoffnung auf die beherrschende Stellung seines Standes hätte verwirklicht werden können. Nun boten ihm die vagen Berichte, welche in der Familie zirkulierten, die beständige Niedergeschlagenheit meiner Mutter sowie das gelegentliche Aufbrausen meines Vaters einen Anhaltspunkt, von dem aus er die Spur in all ihren Windungen, durch alle Zweifel und Geheimnisse und Enttäuschungen hindurch, mit unablässigem Eifer verfolgte, bis in einem Augenblick der Zerknirschung meine Mutter, geängstigt durch des Beichtigers fortwährende Drohungen, nur ja kein Herzens- und Lebensgeheimnis vor ihm zu verhüllen, ihm endlich die Wahrheit gestand.
    Wir waren damals beide noch sehr klein, als er augenblicks jenen Plan faßte, den er seit dem ersten Tage auf Kosten aller, nur nicht der eigenen Person, ins Werk gesetzt hat. Hinfort wurde alles von ihm inspiriert und auch dirigiert. Er ist es gewesen, welcher bewirkt hat, daß man uns von Kind auf getrennt hielt, denn er lebte in ständiger Sorge, daß die Natur ihm seine Pläne durchkreuzen könnte. Wurde meine Mutter schwankend, so gemahnte er sie sogleich an ihr Gelübde, welches sie ihm so voreilig gegeben hatte. Erhob mein Vater die leisesten Bedenken, gleich donnerten ihm die Schande von meiner Mutter Fehltritt, alle Bitternis des häuslichen Konflikts, die fürchterlichen Wörter Betrug, Meineid, Sakrileg und Empörung der Kirche in den Ohren. Wie wenig dieser Mensch vor irgend etwas zurückschrickt, magst du aus dem Umstand ermessen, daß er mir noch fast in meiner Kindheit den Fehltritt meiner Mutter enthüllt hat, um nur ja meiner frühestmöglichen und dienstfertigsten Teilnahme an seinen Ideen sicher zu sein. Doch war dies noch lange nicht alles! Vom ersten Augenblick an, da ich ihm zuhören und seine Rede verstehen konnte, träufelte er mir auf jedem nur möglichen Weg sein Gift in das Herz. Er bauschte die Vorliebe auf, welche meine Mutter für Dich empfand, indem er mir häufig genug versicherte, daß ihr Gewissen sich vergeblich dagegen auflehne. Er schilderte mir meinen Vater als einen charakterschwachen, lüderlichen, obschon liebevoll-zärtlichen Menschen, der, mit dem natürlichen Stolz dessen, der beim ersten Mal einen Knaben gezeugt hat, diesem Erstgeborenen in unverbrüchlicher Zuneigung anhinge. Vielleicht, teurer Bruder, magst Du den Effekt solcher Worte auf ein von Natur aus heftiges Gemüt ermessen, – solcher Worte überdies, die da von einem kamen, in welchem man mich den Vertreter der Gottheit zu sehen gelehrt hatte. Noch ehe ich mein elftes Jahr erreicht hatte,

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