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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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eine eigens angefertigte, mit Ketten, Vorlegeschlössern und Riegeln gesicherte Tür verschlossen, sobald die Werkleute wieder draußen waren. Dessen ungeachtet lag aber der Durchgang den ganzen Tag lang offen, und dies eines Tantalus würdige Bild des Entkommens und der Freiheit inmitten der lähmenden Gewißheit immerwährender Gefangenschaft stachelte jene Qualen, welche schon im Begriff waren, zur stumpfen Gewohnheit zu werden, aufs lebhafteste an. So kletterte ich in den Graben hinunter und arbeitete mich so nahe wie möglich an jene Tür heran, welche mir den Weg ins Leben versperrte. Zum Sitzen diente mir einer der herumliegenden Steine, zur Kopfstütze die Hand, und so saß ich und saß ich, nichts vor dem trübseligen Blick denn jenen Baum und Brunnen als eine verlassene Schaubühne, vor deren Prospekt einstmals ein so falsches Wunder in Szene gegangen war. Und ich weiß nicht mehr, wie lange ich so gesessen.
    Ein leichtes Geräusch ganz in meiner Nähe riß mich aus meinem Dahinbrüten, und ich gewahrte ein Papier, von irgend jemand da draußen durch den Spalt geschoben, welcher durch eine leichte Bodenvertiefung entstanden war. Ich beugte mich vor und versuchte, das Blatt aufzunehmen. Es wurde zurückgezogen, doch gleich darauf flüsterte eine Stimme, die ich in meiner Aufregung nicht erkennen konnte: ›Alonzo!‹
    ›Ja, ja, ich bin‹, gab ich eifrig zurück, worauf mir das Papier sofort in die Hand geschoben wurde. Danach vernahm ich nur noch den Klang eilig sich entfernender Schritte. Ich verlor keine Zeit, die wenigen auf das Blatt gekritzelten Worte zu entziffern: ›Sei morgen um die gleiche Stunde zur Stelle. Ich habe um deinetwillen viel durchgemacht – vernichte diese Zeilen.‹ Es war die Handschrift meines Bruders Juan, mir so sehr vertraut von unserer erst kürzlich geführten, schicksalsschweren Korrespondenz, – diese Handschrift, bei deren Anblick in meiner Seele stets in den nämlichen Zügen die Worte ›Hoffnung‹ und ›Vertrauen‹ erschienen, als wäre sie selbst ein Papier, welches man über die Glut hält, um die bisher farblosen Zeilen durch die Hitze sichtbar zu machen.
    Ich wundere mich noch heute darüber, daß meine Aufgewühltheit bis zum folgenden Abend mich nicht vor der Bruderschaft verriet. Es mag aber sein, daß bloß jene Aufregungen, welche aus geringfügigeren Ursachen entstehen, sich nach außen hin bemerkbar machen. Von der meinen aber wurde ich zur Gänze in Anspruch genommen. Gewiß ist zumindest das eine, daß mein Geist den vollen Tag lang wie ein Uhrpendel von der einen zur anderen Seite ausschlug, wobei ich mir beständig vorsagte: ›Alles zu hoffen – Nichts zu hoffen‹ . Schließlich ging aber der Tag, so endlos er mir auch schien, doch seinem Ende entgegen. Der Abend brach herein. Wie langsam doch die Schatten länger wurden! Mit welchem Entzücken ich zur Vesper dem allmählichen Verblassen der goldenen und purpurnen Himmelsfarben folgte, wie sie da im großen Ostfenster verglommen, wobei ich schon erwog, daß damit, wenn auch langsamer, am Ende auch ihr westliches Verlöschen kommen mußte! – Und es kam. Kam und brachte eine Nacht mit sich, wie sie unserem Vorhaben gar nicht geeigneter hätte sein können. Es herrschte vollkommene Stille und Finsternis, der Garten lag verlassen, niemand war zu sehen, kein Schritt war zu hören. – So huschte ich denn hinab, kletterte in den Graben und näherte mich jener Tür, an welcher die Hoffnung und die Verzweiflung als zwei ungleiche Pförtnerinnen einander abwechselten. Mich vorbeugend, gewahrte ich mit gierigem Blick, wie ein neues Papier durch den Spalt geschoben wurde. Ich bemächtigte mich seiner und ließ es unter der Kutte verschwinden. Dabei machte mich die Erregung dermaßen zittern, daß ich nimmermehr geglaubt hätte, es unbemerkt in meine Zelle schaffen zu können. Dennoch brachte ich dies zustande, und der Inhalt des Schreibens, sobald ich ihn gelesen hatte, rechtfertigte meine Aufgewühltheit nur zu sehr.
    Zu meiner unaussprechlichen Qual waren große Teile nicht mehr zu entziffern, weil das Schreiben beim Hereinschieben infolge der Reibung an den unter der Tür befindlichen Steinen und Lehmklumpen beträchtlichen Schaden genommen hatte. So konnte ich dem ersten Blatt nur entnehmen, daß mein Bruder auf dem flachen Land nahezu als Gefangener gehalten worden war, und dies durch den Einfluß des Beichtvaters. Ferner, daß eines Tages, als er mit nur einem Wächter dem Jagdvergnügen

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