Melmoth der Wanderer
Superior meine Zelle. Die ersteren blieben sämtlich stehen, überwältigt vom Entsetzen ob des Anblicks, der sich ihnen bot.
Ich habe Euch bereits erzählt, Senor, daß meine Zelle nur noch aus vier nackten Wänden und einer Lagerstatt bestand – es war ein unwürdiger, schandbarer Anblick. Ich selbst kniete noch immer in der Mitte des Raumes auf dem kahlen Boden, und tat dies weiß Gott nicht um irgendwelcher Effekthascherei willen. Der Bischof blickte eine Zeitlang in der Zelle umher, wobei die Würdenträger seines Gefolges ihm ihr eigenes Entsetzen durch Blicke und Gebärden bezeugten, welche keiner weiteren Erklärung mehr bedurften. Nach einer Pause des Schweigens, wandte der Bischof sich an den Pater Superior: ›Wohlan, und was habt Ihr zu diesem hier zu sagen?‹
Der Pater Superior zögerte, sagte aber schließlich: ›Davon habe ich nichts gewußt.‹
›Dies trifft nicht zu‹, verwies ihn der Bischof. ›Und wäre es wahr, so käme es einer Beschuldigung gleich, nicht aber einer Entlastung. Eure Pflichten gebieten Euch, die Zellen jeden Tag zu inspizieren. Wie wäre es möglich, nichts von dem schandbaren Zustand dieser einen zu wissen, wenn nicht infolge Eurer Pflichtvergessenheit?‹ Er durchschritt die Zelle einige Male, wobei ihm seine Begleiter folgten, indem sie die Schultern zuckten und einander indignierte Blicke zuwarfen. Der Pater Superior stand bestürzt daneben. Dann verließen alle den Raum, und ich konnte den Bischof draußen sagen hören: »Dieser unwürdige Zustand muß noch vor meiner Abreise aus diesem Hause in Ordnung gebracht werden.‹ Und, an den Pater Superior gerichtet: ›Ihr seid des Amtes nicht wert, das Ihr bekleidet – ich sollte Euch seiner entheben.‹ Und danach setzte er in noch strengerem Ton hinzu: »Katholiken, Mönche, Christenmenschen – dies ist entsetzlich, ja haarsträubend! Zittert vor den Folgen meiner nächsten Visitation, im Falle die Zustände sich nicht zum Bessern gewendet haben sollten! Seid gewiß, sie wird nicht lange auf sich warten lassen!‹ Er kehrte nochmals um, blieb vor meiner Zellentür stehen und sagte zu dem Pater Superior: ›Tragt unverzüglich dafür Sorge, daß all die Übelstände und Mißbräuche in dieser Zelle noch vor dem neuen Morgen behoben sind.‹ Der Angeredete versicherte den Sprecher schweigend seines Gehorsams.
Am Abend legte ich mich auf einem nackten Strohsack und zwischen vier kahlen Wänden zur Ruhe nieder. Infolge aller Erschöpfung und Müdigkeit war mein Schlaf sehr tief. Da ich aber des Morgens, längst nach der Stunde der Matutin, erwachte, fand ich mich umgeben von all der Behaglichkeit, mit welcher man eine Klosterzelle ausstatten mag: wie durch Zauberei waren, dieweil ich geschlafen, all die Dinge meines täglichen Umgangs wieder aufgetaucht – das Kruzifix, das Brevier, das Betpult, der Tisch, kurz alles war wieder an seinen gewohnten Platz gerückt. Ich sprang von meinem Lager auf und blickte in wahrer Verzückung in meiner Zelle umher. Mit dem weiteren Fortschreiten des Tages – die Stunde der Mahlzeit rückte immer näher – nahm indes dies Entzücken in dem Maße ab, als meine Befürchtungen wuchsen. Es ist nicht leicht, aus der tiefsten Erniedrigung und letzten Abscheulichkeit so plötzlich wieder seinen früheren Stand in einer Gemeinschaft einzunehmen, deren Mitglied man ist. Beim Klang der Mittagsglocke begab ich mich hinunter, verharrte einen Atemzug lang in der Tür, um danach mit der Kraft der Verzweiflung einzutreten und mich an meinen angestammten Platz zu setzen. Keinerlei Einwendungen erfolgten, nicht ein Wort wurde darüber verloren. Nach dem Essen gingen alle auseinander, und ich harrte nun dem Klang der Vesperglocke entgegen. – Dieser, so bildete ich mir ein, würde die Entscheidung bringen. Schließlich war es so weit, die Glocke wurde geschlagen, – die Mönche versammelten sich. Ich gesellte mich ihnen zu und traf auf keinen Widerstand – ich nahm meinen Platz im Chor ein –, mein Triumph war vollständig. Zwei Tage gingen in voller Ruhe dahin – der Sturm, welcher uns so lange in Atem gehalten, schien nun plötzlich eingeschlafen zu sein.
Am dritten Morgen wurde ich jedoch ins Sprechzimmer gerufen, wo ein Bote mir ein versiegeltes Paket aushändigte, welches (wie ich wohl wußte) das Ergebnis meiner gerichtlichen Berufung enthielt. Infolge der Ordensregel war ich angehalten, alle Post zunächst dem Pater Superior zur Einsichtnahme vorzulegen, ehe ich selbst sie lesen durfte.
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