Melodie der Liebe
die man in den ersten Jahren macht, die langlebigsten sind. Gute oder schlechte, sie machen uns zu dem, was wir sind.“ Sie beugte sich mit ernster Miene vor. „Sagen Sie, woran erinnern Sie sich, wenn Sie an sich als Fünfjährigen denken?“
„Ich sitze am Klavier und spiele Tonleitern.“ Die Erinnerung kam ihm mit einer solchen Deutlichkeit, dass er lachen musste. „Ich rieche die Treibhausrosen und sehe durchs Fenster auf denSchnee hinaus. Einerseits will ich meine Übungsstunde nicht abbrechen, andererseits möchte ich nur zu gern nach draußen in den Park, um meine Nanny mit Schneebällen zu bewerfen.“
„Ihre Nanny“, wiederholte Natasha. Dass er eine Kinderfrau gehabt hatte, registrierte sie schmunzelnd, nicht abfällig. Es entging ihm nicht. Sie stützte das Kinn auf die Hand. „Und was haben Sie getan?“
„Beides.“
„Ein verantwortungsbewusstes Kind.“
Er strich ihr mit der Fingerspitze übers Handgelenk und spürte, wie sie erzitterte. Ihr Pulsschlag erhöhte sich, bevor sie die Hand fortzog. „Und woran erinnern Sie sich?“ fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. „An meinen Vater, der Holz für das Feuer bringt, das Haar und den Mantel voller Schnee. Das Baby, mein jüngster Bruder, schreit. Dann der Duft des Brots, das meine Mutter gebacken hat. Daran, wie ich mich schlafend gestellt habe, um zuzuhören, wie mein Vater mit ihr über die Flucht redet.“
„Hatten Sie Angst?“
„Ja.“ Ihr Blick verschleierte sich. Sie sah nicht oft zurück, empfand selten das Bedürfnis dazu. Aber wenn sie es tat, dann nicht träumerisch und sentimental, sondern ganz sachlich. „Große Angst sogar. Mehr, als ich je wieder haben werde.“
„Möchten Sie mir davon erzählen?“
„Wozu?“
„Weil ich verstehen möchte.“
Sie wollte ablehnen, hatte die Worte bereits auf der Zunge. Doch die Erinnerung war schon zu lebendig. „Wir warteten bis zum Frühling und nahmen nur mit, was wir selbst tragen konnten. Papa sagte, wir würden die Schwester meiner Mutter, die im Westen lebte, besuchen. Aber ich glaube, einige Nachbarn wussten, was wir vorhatten. Sie sahen uns mit müden Gesichtern und aus großen Augen nach. Papa hatte Papiere, schlechte Fälschungen zwar, aber immerhin. Und er hatte eine Landkarte und hoffte, die Grenzwächter umgehen zu können.“
„Und Sie waren nur zu fünft?“
„Damals schon fast zu sechst.“ Sie strich über den Rand ihres Glases. „Mikhail war zwischen vier und fünf, Alex erst zwei. Nachts riskierten wir es, ein Lagerfeuer anzuzünden. Wir saßen drum herum, und Papa erzählte Geschichten. Das waren schöne Nächte. Mit seiner Stimme im Ohr und dem Rauch des Feuers in der Nase schliefen wir ein. Wir überquerten die Berge nach Ungarn. Die Flucht dauerte insgesamt dreiundneunzig Tage.“
Er konnte es sich nicht vorstellen, auch wenn er ihren Augen ansah, wie schwer es gewesen sein musste. Sie sprach leise, aber die Gefühle waren nicht zu überhören, verliehen ihrer Stimme einenreichen Klang. Spence dachte an das kleine Mädchen, griff nach ihrer Hand und wartete darauf, dass sie weiterredete.
„Mein Vater hatte die Flucht jahrelang geplant. Vielleicht hat er sein ganzes Leben davon geträumt. Er hatte Namen von Leuten, die Flüchtlingen halfen. Es herrschte Krieg, zwar nur der Kalte, aber ich war zu jung, um das zu verstehen. Was ich verstand, war die Angst, bei meinen Eltern, bei denen, die uns halfen. Wir wurden aus Ungarn heraus nach Österreich geschmuggelt. Die Kirche unterstützte uns, brachte uns nach Amerika. Es hat lange gedauert, bis ich keine Angst mehr hatte, dass die Polizei kommt und meinen Vater abholt.“
Sie kehrte in die Gegenwart zurück. Es war ihr unangenehm, ihm davon erzählt zu haben. Überrascht stellte sie fest, dass er ihre Hand fest umklammert hielt.
„Für ein Kind ist das eine Menge, mit der es fertig werden muss.“
„Ich erinnere mich noch, wie ich meinen ersten Hotdog gegessen habe.“ Sie lächelte und hob ihr Weinglas. Über die Zeit hatte sie nie geredet, nicht einmal mit der Familie. Jetzt, wo sie es doch getan hatte, noch dazu mit ihm, verspürte sie den dringlichen Wunsch, das Thema zu wechseln.
„Und an den Tag, an dem mein Vater das ersteFernsehgerät mit nach Hause brachte. Für kein Kind gibt es völlige Geborgenheit. Selbst mit einer Nanny nicht. Aber wir werden erwachsen. Ich bin eine Geschäftsfrau, und Sie sind ein respektierter Komponist. Warum komponieren Sie eigentlich nicht?“ Sie fühlte,
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