Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Mann könne von einer ihr unerklärlichen Melancholie befallen sein. Doch inzwischen weiß sie, daß dies nicht der Fall ist. George Middleton ist krank.
Er war sehr tapfer und versuchte, seine Schmerzen zu beherrschen, doch schließlich gab er Charlotte gegenüber zu, daß er eine so heftige Pein in den Eingeweiden verspüre, daß er das Gefühl habe, ohnmächtig davon zu werden. Pfarrer Claire ist auch noch in ein weiteres Leiden eingeweiht, das der arme Mr. Middleton seiner künftigen Frau gegenüber nicht erwähnen wollte: Ihn plagt ein fast ständiges Bedürfnis zu pissen. Er kann keine Stunde im Bett liegen, ohne wieder aufstehen zu müssen. Er kann nicht mehr weggehen, aus Angst, der Raum, in dem er sich befindet, könne zu weit von einem Toilettenstuhl entfernt sein.
So war er zu Hause in Norfolk geblieben und hatte seiner »lieben Daisy« Briefe geschrieben, in denen er ihr jeden Morgen und jeden Nachmittag erzählte, wie sehr er sie liebt und schätzt und wie stark er sich nach der Hochzeit sehnt. Doch der Augenblick dafür ist noch nicht gekommen, kann noch nicht kommen, weil George Middleton krank ist und in diesem Zustand nicht heiraten kann.
An diesem schönen Herbsttag haben sie von ihm die Nachricht erhalten, daß der Arzt in seiner Blase einen Stein diagnostiziert hat. Dieser Stein , schreibt er, kann so groß wie ein Apfel sein, und was kann ein ganzer Apfel in mir schon anderes tun, als nach Belieben herumrollen und mir auf diese Art Qualen zufügen. Verschwinde! sage ich zu ihm. Du elender Apfel, brich auseinander, lös dich auf, wandre durch mich hindurch und gib mich frei!
Er ist aber noch nicht auseinandergebrochen und hat sich auch nicht aufgelöst; George Middletons Leben wird durch ihn zur Qual. Und nun, allein mit seinem Schmerz, in Erwartung des Eingriffs, der ihn töten oder erleichtern wird, wird ihm klar, daß es das Leben, das er mit Charlotte Claire geplant hat, vielleicht niemals geben wird. Selbst in seinen Tagträumen, in denen er die Zimmer seines Hauses in Norfolk neu einrichtet, um ihren Bedürfnissen und Wünschen gerecht zu werden, weiß er, daß es vielleicht nie zu diesen Veränderungen im Haus kommen wird oder, falls doch, sie diese womöglich nie sehen wird, nie ihre Freunde in das kleine nach Süden, zum Rosengarten gehende Zimmer einladen wird, nie den Namen Mrs. George Middleton auf einer Visitenkarte gedruckt sehen oder ihr Haar im gemeinsamen Schlafzimmer im sanften Kerzenlicht lösen wird.
Und auch Charlotte und ihrem Vater ist klar: George Middleton stirbt vielleicht. Wie viele Menschen wohl eine solche Operation überleben? Sie wissen es nicht.
Pfarrer Claire wünschte, er wäre Arzt und könnte die Operation selbst durchführen, so daß das Leben George Middletons in seinen sicheren Händen liegen und er durch die reine Kraft von James Claires Willen am Sterben gehindert würde. Doch wie die Dinge nun liegen, kann er nur beten. Als er jetzt mit Charlotte den vertrauten Weg entlanggeht, kommt ihm der wunderliche Gedanke, daß die große Wolke am Himmel dieses schönen Herbstmorgens letztlich doch nicht die Sonne verdecken wird. »Charlotte«, sagt er, »ich habe plötzlich das sichere Gefühl, daß George nicht von dir genommen wird.«
Charlotte schwieg. Welcher liebende Vater würde nicht in seinem Eifer, es allen recht zu machen, Hoffnung als Gewißheit anbieten? Sie drückt seinen Arm fester, als wolle sie sagen: »Sollte er sterben, dann habe ich zumindest einen sicheren Platz, wenigstens stehe ich unter deinem Schutz. Und dafür bin ich dir dankbar.«
Nach einer Weile, als sie den Teil des Weges erreichen, wo es beim Gehen durch das herabgefallene Laub der Kastanienbäume raschelt, sagt James Claire: »Ich habe darüber nachgedacht, welch merkwürdige Wege unsere Gedanken doch im Hinblick auf alles, was uns teuer ist, gehen. Oft ist es doch so, daß uns etwas, was uns zunächst Kummer bereitete, noch tiefer ins Elend stürzt, wenn es sich umkehrt, so daß der erste ›Kummer‹ nun gar nicht mehr als solcher erscheint, sondern als etwas anderes, was mehr dem Glück ähnelt.«
Charlotte lächelt. Es ist in der Kirchengemeinde von St. Benedict the Healer wohlbekannt, daß sich Pfarrer Claire manchmal in einer seltsam gewundenen Sprache verheddert. »Was meinst du damit genau, Vater?« fragt sie.
»Nun«, erwidert er, »als ich hörte, daß du George heiraten würdest, da hielt ich es für meine größte Sorge, daß du die Familie verlassen wirst und
Weitere Kostenlose Bücher