Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Notenblättern ein Stück Pergament hervor und hält es hoch. »Una petizione!« verkündet er. »Wir haben sie gestern abend verfaßt. Wir bitten den König, unsere Situation zu überdenken. Wir bitten ihn, sich vorzustellen, wie sehr wir hier unten leiden, mit den kalten Steinen und Hühnern …«
»Setzt Euch, Signor Rugieri!« wirft Ingemann ein und versetzt seinem Notenständer einen Schlag mit der Hand.
»Nein!« sagt Rugieri. »Nein, Musikmeister! Wir sind nicht die einzigen, die zu sagen wagen, daß wir schlecht behandelt werden. Wir wissen, daß Herr Krenze und Monsieur Pasquier auf unserer Seite sind und unsere Bittschrift unterschreiben werden. Und wenn alle signieren …«
»Keiner von euch wird signieren!« ruft Ingemann. »Es wird keine Bittschrift geben.«
Martinelli gibt nun ein Geräusch von sich, das ein Zwischending zwischen einem Seufzer und einem Aufschrei ist. Dann ruft er in einem Schwall von Italienisch, daß er im Keller noch verrückt wird, in seinem Land nur gemeine Verbrecher und völlig Verrückte an derartigen Orten untergebracht sind und die Musik, wenn er sie auch sehr schön findet, nicht genügend Ausgleich bietet. Außerdem sei er kein Weinfaß und weigere sich, in einem solchen Gewölbe alt zu werden.
Krenze feixt. In die Stille nach Rugieris Ausbruch, dessen Worte nicht alle verstanden haben, sagt der deutsche Violaspieler, daß ihm, wenn er ein Weinfaß wäre, wenigstens Wertschätzung entgegengebracht würde, da der König Wein nicht nur mehr schätze als Musik, sondern auch mehr als fast alles andere im Königreich. Ingemann schnauzt ihn an, er müsse Seiner Majestät wohl von dieser Bemerkung Mitteilung machen. Pasquier, der noch ganz erschöpft vom Erlernen des Dänischen ist und sich nun weigert, sich auch noch auf Italienisch einzulassen, will wissen, was Martinelli gesagt hat. Rugieri tippt auf seine petizione und brüllt, daß König Christian ein Mann ist, der Leid kennt und so auch Verständnis für ihres haben wird. Peter Claire kümmert sich nicht um die kalte Wut, die er in Ingemanns Brust aufsteigen sieht, und schlägt vor, die Bittschrift laut vorzulesen.
Die petizione ist in Dänisch verfaßt und nicht ganz fehlerfrei. Obwohl Jens Ingemann so tut, als höre er nicht zu, beginnt Rugieri sie vorzulesen:
An Seine Majestät, den König
Wir, die Unterzeichneten, Seine getreuen Klangmacher, bitten Ihn sehr, sich unsere Gedanken anzuhören, die wie folgt sind:
wir sind traurig, in einem derartigen Keller sein zu müssen, wir leiden so sehr an der Kälte
unsere Finger sind abgestorben …
»Was für ein pathetischer, fehlerstrotzender Unsinn ist denn das?« wirft hier Ingemann ein.
Es herrscht einen Augenblick Schweigen, bevor Rugieri, den Blick von Jens Ingemann abwendend, fortfährt:
Und wir flehen Eure Majestät an
sie möge unser Gebet erhören
in dieser unserer petizione
und uns an einen anderen Platz verlegen …
»Genug!« schreit da Ingemann. »Noch nie im Leben habe ich mit solchen Faulpelzen und Idioten zu tun gehabt! Woraus seid ihr denn? Aus Zucker? Bei eurer Verdrießlichkeit, euren kleinlichen Beschwerden und Klagen wird mir doch gleich die Milch sauer! Was für einen üblen Geruch doch euer Mangel an Entschlossenheit hinterläßt!«
»Ach nein!« antwortet Krenze. »Nun also die Moral. Und auch noch die ganze Zeit der Versuch, poetisch zu sein …«
Doch Ingemann schenkt ihm keine Beachtung und fährt fort. »Wißt ihr nicht«, sagt er, »daß mir Woche für Woche Musiker aus aller Welt Briefe schreiben und um einen Platz in diesem Orchester bitten? Seid ihr euch denn nicht darüber im klaren, daß ihr im Handumdrehen, in der Zeit, die es braucht, um die Nordsee zu überqueren, ersetzt werden könnt? Dann werdet ihr also ersetzt! Keiner von euch versteht die Gründe für unseren Aufenthalt unter den Prunksälen, weil ihr alle keine intelligenten oder sensiblen Männer seid und euch diese daher gar nicht vorstellen könnt. Und das ist es, was ich dem König mitteilen werde: daß seine Musiker überhaupt nichts begreifen. Und dann werdet ihr weggeschickt!«
Jens Ingemann grapscht sich seine Notenblätter und marschiert zum Keller hinaus. Hinter ihm herrscht Schweigen, das nur vom Geräusch seiner wütenden Schritte auf der engen Treppe zu den oberen Räumen unterbrochen wird.
In der Nacht schickt König Christian nach Peter Claire. »Lautenist«, sagt er müde, »wie ich höre, gibt es eine Meuterei.«
Er scheint nicht alarmiert zu
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