Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
ich, wenn ich von der Kanzel blicke, dein liebes Gesicht nicht mehr zu mir aufschauen sehe. Doch nun merke ich, daß dies, verglichen mit der Möglichkeit, der wir nun gegenüberstehen, nämlich daß du George nicht heiratest, überhaupt keine Sorge war. Denn jetzt würde ich, wenn du Georges Frau bist und mit ihm in Norfolk lebst und alles gut ist, auf die Gemeinde schauen und denken, daß ich meine liebe Charlotte nicht bei mir habe, weil sie bei ihrem Mann und in ihrem eigenen Haus ist, und daß ich mir das wünsche und nichts als Glück empfinden und keinen Kummer haben sollte.«
Charlotte lacht. Als sie an den Zehenspitzen etwas Hartes fühlt, bleiben sie stehen. Sie bückt sich und hebt die erste Kastanie in ihrer grünen Schale auf, das »Baummobiliar«, das sie als Kind so liebte und immer mit Öl polierte.
Auf dem Rückweg, als beide Appetit auf das Mittagessen verspüren, wendet sich James’ und Charlottes Gespräch Peter Claire zu.
In der Gemeinde St. Benedict ist jetzt ein lebhafter Mann namens Lionel Neve Chormeister. Peter hatte auf das Stellenangebot seines Vaters liebevoll reagiert und ihm Schmeichelhaftes über die Qualität der Musik in dieser Kirche geschrieben, doch bitte versteh , hieß es weiter, daß mich meine Anstellung hier in Dänemark noch für lange Zeit daran hindert, nach England zurückzukehren. Der König hat mir großes Vertrauen und seine Gunst erwiesen, und ich muß bei ihm bleiben, um meine zahlreichen Aufgaben zu erfüllen, und darf ihn nicht verlassen.
»Er hatte recht, es abzulehnen«, meint James Claire. »Es war falsch von mir, ihn darum zu bitten. Was ist eine Kirche auf dem Lande schon, verglichen mit einem Königlichen Orchester?«
»Das ist es nicht, Vater!« erwidert Charlotte. »Peter hat vielmehr noch nicht gefunden, wonach er sucht. Vielleicht ist es die Musik in ihm, vielleicht auch etwas anderes. Ich glaube jedoch, er weiß, daß er es hier nicht finden würde.«
Pfarrer Claire nickt. Er hat den Blick seines Sohnes vor Augen, als sehe dieser aufs Meer hinaus, nicht auf das graue Meer Englands, sondern auf ein weit entferntes blaues, dem etwas Unendliches anhaftet, ein Meer, das kein Schiff je so durchqueren kann, daß wieder Land in Sicht kommt.
Lionel Neve hingegen ist ein Mensch, der mit dem täglichen Einerlei vollkommen zufrieden zu sein scheint. Er schießt mit seinem schwarzen, mitten auf seiner Glatze wild hochstehenden Haarbüschel wie ein aufgescheuchter Kiebitz herum. Wenn er von Musik spricht, kommt er manchmal vor Begeisterung und Freude so in Fahrt, daß sich bei ihm ein wenig Speichel am Lippenrand zeigt. Er dirigiert so schwungvoll, daß es ihn oft in kleinen Sprüngen vom Boden hebt.
»Lionel war der Richtige!« sagt James Claire.
»Ja«, antwortet Charlotte, »Lionel war der Richtige. Wofür Peter der Richtige ist und was für ihn richtig ist, weiß man noch nicht.«
Sie sind jetzt am Tor des Pfarrgartens angekommen, öffnen es und laufen über die Wiese. Charlotte sagt, daß sie das Stück »Baummobiliar«, das sie mitgenommen hat, polieren und nicht stumpf werden lassen wird, so daß es wie ein Licht ist, das für George Middleton brennt. Sie fügt noch hinzu, daß sie wisse, wie dumm das ist, doch das sei ihr egal.
LA PETIZIONE
Im Sommer spielte das Königliche Orchester meist im Garten oder Sommerhaus von Rosenborg. Wenn die Tage kürzer werden, kehrt der König ins Vinterstue zurück und die Musiker in den Keller.
König Christian hat Peter Claire erklärt, warum er darauf bestehen muß, daß sie dort bleiben. Ihm ist klar, daß es dort kalt und nicht sonderlich hell ist und daß sie sich vielleicht vergessen wähnen, »doch genau das war immer meine Absicht«, sagt er, » daß man euch vergißt. Daß ihr unsichtbar seid! Und wenn dann Prinzen und Botschafter Rosenborg besuchen und im Vinterstue sitzen, und Musik kommt ihnen zu Ohren, und sie wissen nicht, woher, dann finde ich bestätigt, wie einzigartig auf der Welt dieses Arrangement ist. Weil sich die Leute wundern! Sie blicken sich um und fragen sich, wie es möglich ist, daß eine Pavane von den leeren Wänden ins Zimmer schallt. Dann sehe ich, wie sie von diesem Augenblick an eine hohe Meinung vom dänischen Erfindungsreichtum und somit auch von Dänemark selbst haben. Denn es ist genau das, wonach sich die Menschen in einer lärmenden Welt sehnen.«
»Wonach sehnen sie sich, Sir?«
»Danach, von einem Gefühl des Staunens erfüllt zu sein! Sehnt Ihr Euch nicht auch
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