Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
danach, Mr. Claire?«
Dieser erwidert, er habe dieses Sehnen in sich noch nicht genau bestimmt, vermute aber, daß es vorhanden sei.
»Natürlich ist es vorhanden!« sagt König Christian. »Doch wann seid Ihr zuletzt über etwas gestolpert, das es befriedigt hat?«
Der Lautenist sieht dem König in die Augen, die aus Schlaf-mangel verschwollen und rot und deutlich von Sorge und Kummer gezeichnet sind. Er würde dem König sehr gern offenbaren, daß er in der Person Emilia Tilsens eine Antwort auf seine Sehnsüchte findet, daß sie ihn staunen läßt und er durch sie eine Vision des Mannes, der er sein möchte, bekommen hat. Doch Peter Claire würde es grausam finden, dem König gegenüber gerade zum jetzigen Zeitpunkt etwas über Liebe zu erzählen. Es ist so unmöglich, weil Emilia genauso eng mit Kirsten verbunden ist wie er mit Christian.
»Ich glaube«, sagt er vorsichtig, »daß ich, wenn unser Orchester in vollkommener Harmonie spielt, manchmal ein paar Augenblicke … etwas verspüre …«
»Staunen?«
»Faszination.«
»Könnte das ein und dasselbe sein?«
»Fast. Ich verfalle dann in eine derart intensive Betrachtung des Klangs – der nur einer zu sein scheint, in Wirklichkeit aber die Summe all unserer Beiträge ist –, daß ich dadurch einen anderen Bereich meines Ichs erfahre.«
»In dem Ihr Hoffnung oder etwas Ähnliches verspürt?«
»Ja. In dem ich nicht mehr dieser übliche Abglanz meines Ichs bin, das herumläuft, ißt, schläft und müßig ist, sondern vollkommen ich selbst .«
Bei dieser letzten Bemerkung beginnt König Christian mit seiner langen Locke zu spielen, weil er nun erkennt, wie weit er sich in seiner sinnlosen Toleranz von Kirstens Schlechtigkeit von dem Mann entfernt hat, der einst in seinen Träumen Kriegsschiffe entwarf, Dänemarks Küste vor dem Meer rettete und die Vagabunden unter dem prächtigen Dach des Børnehus versammelte und an Spinnrädern und Webstühlen arbeiten ließ. »Aha!« seufzt er. »Das ist also der Trick: den Weg – sei es nun vor- oder rückwärts – zu dem zu finden, wonach wir uns sehnen.«
Wenn Peter Claire dem König gegenüber auch Lobreden auf harmonische Klänge angestimmt hat, so sind die jüngsten Proben im Keller doch von Disharmonien geprägt gewesen.
Jens Ingemann mußte immer wieder auf seinen Notenständer klopfen: »Signor Rugieri, was soll Eure plötzliche Vorliebe fürs Fortissimo? Herr Krenze, Ihr laßt aus Eurem Mund häßliche Töne entweichen, und von Eurem Instrument kommen auch keine schönen! Mr. Claire, Ihr hinkt nach! Könnt Ihr nicht mehr den Takt halten?«
Man könnte meinen, die Musiker seien erschöpft. Wenn sie sich am Morgen versammeln, sprechen sie kaum noch miteinander. Sie gähnen. Sie blicken aus ihrem düsteren Gefängnis. Daran, daß keine Sonne mehr durch das gitterartige Mauerwerk scheint, erkennen sie, daß der lange Winter zum Greifen nahe ist.
Eines Nachmittags dann, als sie fast vier Stunden lang für den König gespielt haben, das Licht allmählich schwächer wird und die Kerzen angezündet sind, so daß Wachs auf die Notenblätter tröpfelt, legen Rugieri und Martinelli, als sich die Falltür über ihnen endlich geschlossen hat, ihre Bögen beiseite, und Rugieri steht auf und wirft dabei seinen Stuhl um. »Meine Herren!« sagt er. »Martinelli und ich sind in conferenza gewesen. Wir sind der Meinung, daß es unzumutbar ist, einen weiteren Winter unter diesen Bedingungen auszuhalten. Wir sterben alle vor Kälte. An Schwindsucht. An sofferenza !«
Martinelli fährt sich mit den Fingern heftig durchs schwarze, lockige Haar, als wolle er eine solche sofferenza , die schon auf dem Weg in seinen Kopf war, herausschütteln. »Wir fragen, was wir denn getan haben«, sagt er, »wir, die wir zu den besten Musikern Europas zählen, daß wir es verdienen, in diesen Kerker gesteckt zu werden. Wenn Ihr es uns sagen könnt, Herr Ingemann, dann sagt es uns, per favore sagt es uns, per favore klärt uns auf …«
Jens Ingemann starrt auf die beiden Italiener. Er war ihnen gegenüber schon immer mißtrauisch, da er einen solchen Ausbruch bei Männern, die ihre Leidenschaft nicht nur der Musik widmen, sondern sich erlauben, diese auf flüchtige Gefühle zu verschwenden, immer befürchtete. Er antwortet ihnen nicht, sondern sieht sie nur an. Dann läßt er einen eiskalten Blick über die Spieler wandern, so daß alle seinem frostigen Griff ausgesetzt sind. In diesem Augenblick holt Rugieri hinter seinen
Weitere Kostenlose Bücher