Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
chère, hast du schon den neuesten Witz gehört? Die Herzogin von Montreuil ist doch nicht verunstaltet! Sie trug nur ein dänisches Korsett!
Diese Befürchtungen werden durch das Eintreffen eines Briefes unterbrochen. Der Bote sagt dem König, es sei ein Schreiben aus dem Numedal, und als dieser das hört, vergißt er die dortige Explosion und stellt sich vor, in dem Brief werde eine Ladung Silber angekündigt. Doch im nächsten Augenblick fallen ihm wieder die Toten der Mine und die unter unvorstellbaren Gesteinsmassen vergrabenen Flöze des Erzes ein.
Er beginnt zu lesen. Der Absender ist ein gewisser Martin Møller, ein Pfarrer, und das erfüllt den König zunächst mit Lustlosigkeit. Er will die Nachricht schon beiseite legen, als er bemerkt, daß Møllers Worte nicht schwach sind – wie Pfarrersworte so oft –, sondern von derselben leidenschaftlichen Verzweiflung erfüllt sind, die er selbst verspürt.
Wenn Ihr nicht gekommen wärt und uns Hoffnung gemacht hättet, Sir, schreibt er, dann hätten wir bestimmt weitergelebt wie bisher und nicht geklagt. Ihr seid aber gekommen! Ihr habt uns emporgehoben! Ihr habt uns Visionen von dem geschenkt, was sein könnte …
Der König liest den letzten Satz still noch einmal, weil er ihm plötzlich auf unerklärliche Weise Trost spendet.
Visionen.
Visionen von dem, was sein könnte.
DIE AUS DER LUFT GEGRIFFENEN GEDANKEN VON MARCUS TILSEN, FÜNF JAHRE ALT
Magdalena sagt Baby Ulla ist ein Stück Himmel der zu uns heruntergekommen ist weil wir gut sind.
Mein Vater sagt nun hast du eine neue Schwester Marcus und du mußt nett zu ihr sein und sie liebhaben und ich sage warum hat Baby Ulla Magdalena nicht getötet als es aus ihr rauskam und er schlägt mir über die Augen. Ich sage ich habe das rote Ding im Wasser gesehen das aus Magdalena herausgekommen ist und es ist tot und die Fische haben es gefressen und mein Vater sagt in dir steckt Böses Marcus und wir holen einen heiligen Mann um das Böse aus dir herauszuholen und wenn man es nicht herausbekommt dann müssen wir dich weit weg schicken.
Ich wollte daß der heilige Mann kommt und ein Bote ist und mir etwas von Emilia bringt aber er war alt und dünn. Er sagte nun wirst du im Wasser des Sees noch einmal getauft Marcus und der Teufel aus dir vertrieben und mein Vater sagt wir sind jenseits der Verzweiflung mit diesem Knaben.
Jenseits der Verzweiflung ist kein Dorf. Es ist was Ingmar eine Wildnis nennt er lernt über Wildnis und sagt da sind Tiere die du noch nie gesehen hast.
Ich sage zu dem alten dünnen Mann wenn du mich zum See bringst dann töte ich das Baby Ulla und lasse es von den Fischen auffressen doch mein Vater schlägt mich und ich falle hin. Otto weine ich. Otto meine Katze.
Es ist eiskalt im See als das Wasser über mich kommt.
Nun sagen sie Marcus wir warten und beten daß alles Böse von dir weg ist und wenn wir sicher sind daß es weg ist nun dann bist du in dieser Familie wieder willkommen aber wir sind noch nicht sicher und deshalb mußt du weggeschlossen werden damit du dem Baby Ulla nichts tust.
Das Geschirr wird mir angelegt und ich liege in meinem Bett und es wird Nacht. Ich bin in einer Wildnis und weiß jetzt was in einer Wildnis ist es sind große Tiere da die Büffel heißen und ich habe sie auf einem Bild gesehen. Ich sage Büffel kommt sofort her tut was ich euch sage und sie sind warm und atmen wie Kühe atmen und ich flüstere ihnen gute Nacht zu.
Und wenn ich unten bin und mein Harnisch ab ist und das Baby Ulla dort in der Wiege liegt und Wilhelm sagt wir beobachten dich alle Marcus dann bin ich noch bei diesen Büffeln in meiner Wildnis obwohl es schon Morgen ist. Ich zähle sie.
BRIEF AN PETER CLAIRE VON GRÄFIN O’FINGAL
Mein lieber Peter,
ich weiß nicht, ob Dich mein Brief erreicht hat.
Oft wundere ich mich, daß überhaupt einmal ein Brief – etwas so wenig Substantielles – sein Ziel erreicht, wenn ich bedenke, welchen Weg er zurücklegen muß und welchem Wetter seine Überbringer ausgesetzt sein können.
Als mir Johnnie O’Fingal einmal das traurige Schauspiel von Romeo und Julia vorlas und mir klar wurde, daß alles verloren war, weil der Brief von Bruder Lorenzo an Romeo verlorenging, machte ich Johnnie gegenüber die Bemerkung, daß wir doch immer und ewig nach Wegen suchen, um mit denen vereinigt zu werden, die wir über die unermeßliche Weite des Raums und der Zeit hinweg lieben, daß diese Wege aber unsicher sind und Wind und Wogen bestimmt viele
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