Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
verlorene Dinge herumtragen, die dann nie wieder aufgefunden werden.
Ich möchte Dir jetzt von einer Reise berichten, die ich nach Weihnachten antreten werde.
Du wirst Dich sicher noch daran erinnern, daß mein Vater als Papierhändler versucht, seine Waren nicht nur in Italien, sondern auch in anderen Ländern abzusetzen. Nun ist er darauf aufmerksam geworden, daß sich möglicherweise ein Vermögen verdienen ließe, wenn er in den nördlichen Ländern mit ihrem reichen Bestand an Tannen – dem besten Baum für die Herstellung guten Papiers – eine Mühle errichtet. Der Gedanke, daß sich Francesco Pontis Papier von da aus in Richtung Westen – vielleicht bis Island – und in Richtung Osten bis zu den russischen Ländern verbreiten könnte, macht meinen Vater ausgesprochen glücklich.
Er will nun im neuen Jahr nach Dänemark reisen. Als ich hörte, daß er nach Kopenhagen gehen will, um dort die Erlaubnis des Königs zur Errichtung seiner Mühle einzuholen, fragte ich ihn, ob ich ihn begleiten könne, um ihm bei seinen Verhandlungen zu helfen, weil er ja, wie Du sicher noch weißt, außer Italienisch kaum eine Sprache beherrscht. Und er ist überglücklich, daß ich dies tun will, und hat zu mir gesagt: »Francesca, du bist dann meine rechte Hand, und wir werden zusammen schauen, was es in diesem großen Königreich Dänemark gibt, und auf dieser Reise wirst du alles Leid der vergangenen Jahre abschütteln und deine Lebensfreude zurückgewinnen. «
Ich habe ihm nicht gesagt, daß Du in Kopenhagen bist. Ja, ich sage es nicht einmal mir, weil es ja sein kann, daß Du gar nicht mehr dort, sondern inzwischen an einem anderen Hof bist – in Paris oder Wien. Nur in der Stille der Nacht auf Cloyne bitte ich Gott, daß ich Dich noch einmal sehen, spielen hören und – kaum wage ich es auszusprechen – in meinen Armen halten darf.
Ich komme allein mit. Meine liebe Freundin Lady Liscarroll nimmt meine Kinder auf und wird ihnen eine gute Mutter sein. Sie ist eine sehr gütige und freundliche Frau, und ich mache mir keine Sorgen, daß meine Maria und ihre Schwester und Brüder nicht gut versorgt sein werden. Und weil das Haus von Lord Liscarroll so prächtig ist und es dort viele Kinder, Spielzeug und Ponys gibt, ja sogar einen Falkner, der meinen Söhnen den Umgang mit diesen Vögeln beibringen kann, und einen Tanzmeister für die Mädchen, sagen sie zu mir: »Oh, du mußt unbedingt fahren, Mama, denn diese Reise wird dir guttun!«
Ich weiß natürlich, daß sie schon vom Tanzen und Reiten und der Falkenjagd träumen und sich in Wirklichkeit nicht allzu viele Gedanken um meine Melancholie machen, finde ihre Sorge um mich aber dennoch sehr süß und liebevoll und sage ihnen, daß ich in all den Stunden, die ich von ihnen weg bin, immer an sie denken werde.
Und das werde ich auch. Nur wenn ich wieder bei Dir wäre, würde die ganze Welt einschließlich ihrer (wie sie auf ihren Ponys dahingaloppieren und den Falken zurufen!) aus meinen Gedanken verschwinden, weil dann bloß noch Raum für Dich darin bliebe.
Mein lieber Peter, ich weiß nicht, ob Dich dieser Brief erreichen oder irgendwo verlorengehen wird. Solltest Du ihn aber erhalten, dann verzeih mir bitte meine Kühnheit und meine fehlenden Skrupel.
Von Deiner Dich liebenden Freundin
Francesca, Gräfin O’Fingal
EIN SPAZIERGANG IM HERBST
Der Weg liegt in der Sonne. Untergehakt schlendern ihn Pfarrer James Claire und seine Tochter Charlotte entlang. Sie sind ihn schon so oft entlanggegangen, daß sie fast jeden Stein kennen, wissen, wo die Jakobskrautbüschel wachsen und wie die abgefallenen Blätter auf dem Boden liegen.
Sie unternehmen diesen Spaziergang in der Hoffnung, daß die Angst, die sie beide empfinden, ein wenig beschwichtigt wird – von dem schönen Tag und der angenehmen Beschäftigung des Wanderns – und sie bei ihrer Rückkehr im Pfarrhaus Anne Claire, die im Wohnzimmer sitzt und näht, sagen können, daß in ihnen ein neues Gefühl erwacht ist und sie nun doch glauben, daß alles wieder gut wird.
Was ihnen auf der Seele liegt (besonders stark Charlotte, aber auch ihrem Vater), ist das, was sich im Leben von Charlottes Verlobtem Mr. George Middleton ereignet hat.
George Middleton war immer ein imposanter Mann gewesen, in den letzten beiden Monaten hatte er aber viel von seiner Kraft eingebüßt. Er war auch immer ein lautstarker Mann gewesen, doch auch dieses Lärmende hatte nachgelassen.
Anfangs sorgte sich Charlotte, ihr künftiger
Weitere Kostenlose Bücher