Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Boshaftigkeit«, erwidert Magdalena.
Daraufhin herrscht Schweigen. Kirsten sieht Emilia an, deren flehend auf sie gerichtetes Gesicht die Farbe eines Mondsteins hat.
»Oh, es tut mir leid, dies zu hören«, sagt Kirsten, deren schönes Lächeln verschwunden ist. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß Kinder manchmal zum Träumen neigen, wenn sie es nicht sollten, doch Boshaftigkeit – Marcus ist doch bestimmt nicht böse! Und wer ist Herr Haas? Ich möchte doch sehr hoffen, daß er ein netter Mensch ist!«
»O ja«, meint Johann hastig.
»Ein Schulmeister, wie? Könnte er zum Unterrichten nicht herkommen … ?«
Wieder wechseln Johann und Magdalena Blicke miteinander. Und nun spürt Emilia, wie das Kirsten gegebene Neutralitätsversprechen in die Brüche geht und sie es nicht halten kann. Es ist aber auch gar nicht mehr nötig, weil den Dingen, denen sie abhelfen wollten, jetzt nicht abgeholfen werden kann, vielleicht nie mehr. Sie wirft sich die Hände vors Gesicht und ruft: »Vater, was hast du mit Marcus gemacht?«
»Du hast es ja gehört, Emilia, meine Liebe«, sagt Kirsten rasch, »Marcus ist bei einem gewissen Herrn Haas. Doch man muß uns natürlich sagen, was für eine Art Mann er ist.«
Johann tritt näher an Kirsten heran, als seien seine Worte nur für sie und nicht für Emilia bestimmt. Er muß jedoch mit ansehen, wie Kirsten Emilia den Arm um die Schultern legt und sie an sich zieht wie eine Mutter ihr liebes Kind.
»Er ist in Århus …«, sagt Johann.
»Es ist einzig und allein zu seinem Besten …«, meint Magdalena.
»Er hat seine Aufgaben nicht gemacht …«, wiederholt Boris.
»Ja, aber seht doch!« meint Kirsten. »Emilia ist den Tränen nahe! Ihr wollt mir doch hoffentlich nicht sagen, daß es in Århus, in diesem Haus des Herrn Haas, etwas gibt, was sie unglücklich macht?«
In diesem Augenblick fällt ein einzelner Lichtstreifen auf den Tisch im Nebenzimmer, der für das üppige Mittagessen, das Magdalena zubereitet hat, gedeckt ist. Und Magdalena sieht hinüber und weiß plötzlich, daß Kirsten nicht dafür bleiben wird. »Marcus«, erklärt sie kalt, »ist in eine Besserungsanstalt geschickt worden. Er kommt zurück, wenn er gelernt hat, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Es weiß jedoch niemand von uns, wie lange das dauern wird.«
TARNUNG ERSCHEINT RATSAM
Anfang November fegt kalter Regen von der Norwegensee nach Dänemark.
Um den Kopf einen Schal gewickelt, läuft Königinwitwe Sofie in den Regen hinaus und blickt in die Grube, die für ihren Schatz gegraben worden ist.
Sie sieht nicht mehr gut. Sie bemerkt, daß sich ein Tier in der hintersten Ecke der Grube verstecken will, und murmelt vor sich hin: »Was für ein Tier das wohl sein mag?« Doch es bewegt sich nicht, und daher kann sie es nicht sagen. Sie überlegt, daß es so ist, wenn eine Frau alt wird: Sie sieht nicht mehr deutlich, was direkt vor ihren Augen geschieht. Und die Leute in ihrer Umgebung können das ausnutzen. Sie können lügen. Sie können behaupten, eine Schlange sei ein Stückchen Rinde oder ein Stückchen Rinde eine Schlange. Sie können so tun, als sei alles in Sicherheit und an seinem Platz, während in Wirklichkeit alles nach und nach weggezaubert worden ist.
Doch Königin Sofie kann zumindest sehen, daß die Grube verloren, ja sogar lächerlich wirkt. Es kommt ihr plötzlich lachhaft vor, daß sie je überlegt hat, ihren Schatz hierherzubringen und in dieses schlammige Loch im Boden zu legen, wie eine Idee, wie sie vielleicht ein Bauer haben mochte. Als sie weggeht (wobei sie sich den Schal über dem Kinn zusammenhält, ganz so, wie es wohl eine Bäuerin tun würde), fragt sie sich, ob sie wohl allmählich schwachsinnig wird. »Doch wie«, murmelt sie, »kann jemand, der schwachsinnig ist, seinen eigenen Niedergang erkennen ? Ist diese Fähigkeit, den Gedanken zu fassen, daß man vielleicht langsam schwachsinnig wird, nicht schon der Beweis, daß nichts dergleichen geschieht?«
Sie wettert gegen diesen Wirrwarr. Sie wettert gegen den kühlen Regen, der kein Erbarmen zeigt.
Später am Tag, als sie sich ausgeruht hat, geht Königin Sofie noch einmal – zum zehnten- oder zwanzigstenmal in dieser Woche – in den Keller hinunter.
Sie hat eine neue Idee. Diese ist aus der Erkenntnis erwachsen, daß eine Königin leicht für eine Leibeigene gehalten werden kann, bloß weil sie einen Schal trägt und sich diesen übers Kinn zieht. Sie hat begriffen, wie leicht man etwas tarnen kann. Und
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