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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Höflichkeit«, meint Kirsten. »Aber nicht so lange vorher, daß sie in ihrem Haushalt etwas verändern oder vor uns verbergen können. Bald schon, Emilia, bist du wieder mit Marcus vereint, und dann spielen wir zusammen mit seinem Kätzchen Otto.«
    Es ist kalt an dem von Kirsten ausgewählten Tag.
    Der Himmel ist grau verhangen, als sie und Emilia sich in Ellen Marsvins bester Kutsche, das Geschirr der Pferde frisch poliert und glänzend, auf den Weg machen. Als Geschenke haben sie für Magdalena eine Kirschmarmelade in einem häßlichen flämischen Topf dabei sowie einen Knäuel scharlachroter Wolle für Marcus’ Katze.
    Emilia ist schwarz gekleidet. Am Hals trägt sie ihr Medaillon mit Karens Bild. Auf der Stirn sieht man ein paar feine, von Unruhe und Kummer hervorgerufene Linien, die in Kirsten liebevolle Zärtlichkeit erwecken. Im Wagen greift Kirsten (die in ihrem grüngoldenen Brokatkleid und mit ihrem Bauch, der so riesig wie eine Glocke ist, groß und prächtig aussieht) nach einer der winzigen Hände Emilias und drückt sie sich an die gepuderte Wange. »Wir bezwingen sie, Emilia!« sagt sie. »Ich bin noch die Frau des Königs. Sie müssen alles tun, was ich von ihnen verlange.«
    Und so fährt die Kutsche an den Obstfeldern vorbei, wo die Früchte schon gepflückt und weggebracht worden sind und das Laub braun und rot wird, immer weiter, bis zur Einfahrt der Tilsens. Emilia schweigt. Und sie hört auch nichts. Überall Schweigen, das Schweigen verlorener Jahre, die keinen Laut zurückgelassen haben.
    Als sie hineingehen, hält sich Emilia hinter Kirsten, in ihrem Schatten, fast so, als glaube sie, so unbemerkt hineinschlüpfen und nur beobachten und zuhören zu können, als müsse sie so nicht sprechen, nicht den eiskalten Kuß ihres Vaters auf der Wange spüren, nicht den Geruch von Magdalenas Körper einatmen und auch nicht den nach saurer Milch des Säuglings.
    Es ist wie immer dunkel in der Eingangshalle, und so sieht sie Emilia im vertrauten Halbdunkel in einer Reihe dastehen: Johann und Magdalena, dann Ingmar und Wilhelm, Boris und Matti und daneben in der Wiege das Baby Ulla.
    Ihr Blick schweift über die Reihe. Ihre Brüder scheinen alle gewachsen zu sein, und Ingmar ist jetzt größer als sein Vater. Doch wo ist Marcus? Emilia blickt zur eichenen Wandbank, hinter der er sich früher oft versteckte, wenn Fremde ins Haus kamen. Sie überlegt, ob er dort sein könnte. Sie möchte ihm gern zurufen, daß sie nun endlich da ist und es sicher sei, herauszukommen. Doch sie weiß, daß sie sich bei diesem so schwierigen Besuch unter Kontrolle halten muß und ihre Gefühle weder durch ihren Gesichtsausdruck noch durch Worte verraten darf. »Du mußt dich neutral verhalten, Emilia!« hatte Kirsten gesagt. »Verstehst du, was ich damit meine?«
    Emilia versteht es. Kirsten meint, daß sie ihr gestatten muß, ihre eigene, seit langem ausgereifte Klinge der Diplomatie zu wetzen, und daß sich Emilia so verhalten soll, als liege keine Spur von List in der Luft und finde – weder ausgesprochen noch unausgesprochen – keinerlei Geschäft statt. Kirsten hat ihr versprochen, daß Marcus, wenn sie nach diesem Nachmittag zu ihrem Wagen zurückkehren, dabeisein wird. Er und das Kätzchen Otto. Er und sein aufziehbarer Vogel. Und sein Pony wird mit seinen Zaumglöckchen, die in der Abenddämmerung läuten, hinter ihnen hertrotten …
    Doch jetzt gibt es nur diese geschlossene Reihe der Tilsens, die sich vor Kirsten verbeugen und vor ihr knicksen. Johann lächelt, die Brüder erröten. Magdalena macht einen so tiefen Knicks, daß sie sich fast in ihren roten Röcken verheddert und Johann sie am Ellbogen festhalten und ihr wieder aufhelfen muß. Kirsten schreitet die Reihe ab, und zwar so aufrecht und unnahbar, daß es Emilia vorkommt, als wirke sie in diesem kalten Zimmer majestätischer denn je auf Rosenborg oder Boller. Ohne den König und ohne ihre Mutter macht sie einen königlichen und wunderbaren Eindruck, ist sie eine anbetungswürdige Frau. Und Emilia sieht die Ehrfurcht ihrer Familie, sieht, wie alle Augen Kirsten folgen, als diese vom einen zum anderen geht, und wie Magdalena die Luft wegbleibt.
    Dann dreht sich Kirsten rasch um. »Im Wagen«, sagt sie, »haben wir ein paar kleine Geschenke für euch, doch hier ist das Geschenk, das ihr, wie ich weiß, am meisten schätzen werdet: Ich habe Emilia mitgebracht!«
    Und so müssen sie nun von ihr Kenntnis nehmen. Emilia ist sich darüber im klaren, daß auch

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