Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
genau das, hat sie nun entschieden, ist hier erforderlich. Ihr Gold bleibt im Keller, wird aber getarnt. Kleine Einfälle – von wunderbarer Einfachheit – lenken die Aufmerksamkeit ab von dem, was ist, auf das, was scheinbar ist. Sollte ihr Sohn dann Männer schicken, um Kronborg nach ihrem versteckten Schatz zu durchsuchen, gehen diese in die Gewölbe hinunter und sind diesem so nah wie sie, als sie jetzt mit der Lampe in der Tür steht, sehen ihn aber nicht. Sie werden berichten, daß nichts da ist, nur ein paar Fässer Wein.
Sie lächelt. Sie hat gehört, daß Rosenborgs Tafelsilber eingeschmolzen worden ist. Was außer der Krone selbst kann noch eingeschmolzen werden? Doch der König hängt an seinem Traum von den Walfängern und behauptet, die Tiere würden aus dem Meer kommen, in dem Dänemark schwimmt, und es retten. Wenn Christian die königlichen Geschenke von dreißig Jahren opfert, einschließlich derer, die er bei seiner Hochzeit mit Anna Katharina erhalten hat, dann opfert er alles und hat keinerlei Skrupel, seiner Mutter auch das wegzunehmen, was sie noch zu ihrem Trost besitzt.
Doch das wird nun nicht geschehen. Wenn sich die Königin auch Sorgen gemacht hat, daß sie allmählich schwachsinnig wird, so stellt sie jetzt wenigstens fest, daß sie noch Ideen hat. Und mit diesen wird sie ihr gehortetes Gold bewahren.
Am nächsten Tag geht sie zusammen mit einem Zimmermann und einem Maurer in das Gewölbe hinunter. Sie drückt beiden einen goldenen Daler in die Hand und schiebt dann den Riegel vor, so daß sie alle drei eingeschlossen sind.
Sie hält die Lampe hoch, so daß ihr gefurchtes Gesicht in der Dunkelheit gespenstisch wirkt, und sagt den Männern, daß sie ihnen gleich gewisse Anordnungen erteilen wird, die diese buchstabengetreu ausführen müssen, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. »Und wenn ihr«, flüstert sie, »irgendeinem Mann, irgendeiner Frau, irgendeinem Kind oder überhaupt einem Sterblichen auf dieser Erde mündlich oder schriftlich etwas von diesen Anordnungen erzählt – und ihr könnt sicher sein, daß ich es erfahre, weil mir in Dänemark alles, was der Wind herumträgt, schließlich zu Ohren kommt –, dann brennen eure Häuser ab, müssen eure Familien auf der Straße betteln gehen und werdet ihr hier in der Dunkelheit für den Rest eures Lebens eingesperrt.«
Die Männer stehen mit offenem Mund da und umklammern ihre Goldstücke. Angst und Aufregung ergreifen von ihnen Besitz, und sie beten, daß von ihnen kein Verbrechen an Gott oder einem Menschen erwartet wird.
»Schwört«, sagt Sofie, »daß ihr alles tut, was ich von euch verlange.«
»Wir schwören es«, antworten der Maurer und der Zimmermann.
Sie verspricht ihnen noch mehr Gold. Sie sollen noch am gleichen Abend mit der Arbeit beginnen und erst wieder aufhören, wenn sie ihre Aufgabe erfüllt haben.
KIRSTEN: AUS IHREN PRIVATEN PAPIEREN
In diesem miserablen November, in dem der Tag, an dem mein und Ottos Kind auf die Welt kommen wird, nicht mehr weit entfernt ist, befinde ich mich in einem schrecklichen Dilemma.
Es wundert mich, daß ich es als Dilemma betrachten kann. Würde ich in meinem eigenen Interesse handeln und nur dieses im Auge haben, dann gäbe es überhaupt kein Dilemma, sondern vielmehr und einzig und allein ein günstiges Geschick und Glück, woraus ich sofort den großen Vorteil ziehen würde, den ich darin erspähe. Daß mir überhaupt die Idee kommt, daß es sich um ein verflixtes Dilemma handelt, läßt wohl vermuten, daß in mir gewisse Veränderungen stattgefunden haben, die ich bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte, nämlich daß ich menschenfreundlicher geworden bin.
Die mißliche Lage ist wie folgt:
– Ich habe endlich erkannt, wie ich mir am Hof einen Verbündeten sichern kann, der mir bei meinen Verhandlungen mit dem Feind meines Mannes, König Gustav von Schweden, behilflich sein kann.
– Ich habe auch erkannt, daß ich von diesem Verbündeten keinen Gebrauch machen kann, ohne Emilia zu verletzen.
Was soll ich tun?
Die Zwangslage ist durch das Eintreffen eines Briefes verschärft worden.
Dieser war an Emilia adressiert, und da der Bote aus Hillerød kam und der König jetzt in Frederiksborg ist, wußte ich, daß er von dem englischen Lautenisten sein mußte.
Mit einem scharfen Silbermesser von Otto hob ich das Siegel, wobei ich sehr darauf achtete, es nicht auseinanderzubrechen, und begann den Brief zu lesen. Es war Nacht, und alle auf Boller waren still und in
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