Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
sie am liebsten so tun würden, als sei sie gar nicht da – dieser Geist Karens, den sie so gern los sein wollen. Doch vor Kirsten müssen sie liebenswürdig zu ihr sein. Johann drückt sie ungeschickt an sich und berührt mit seinen Lippen, die durch die Aufregung über Kirstens Anwesenheit ganz trocken sind, leicht ihre Wangen. »Gut siehst du aus, Emilia!« sagt er. Das ist allerdings alles. Sonst fällt ihm nichts ein, was er zu der Tochter sagen könnte, die er nicht mehr in seinem Leben haben will und die bis vor kurzem auch so weit entfernt war, daß er glauben konnte, sie würde nie zurückkehren.
»Danke, Vater!« erwidert Emilia. Sie blickt ihn einen Augenblick an. Sein Haar ist etwas schütterer geworden, und sie sieht, daß seine Hände zittern.
Sie geht weiter zu Magdalena. Gegen ihren Willen wird sie von ihrer stechend riechenden Stiefmutter umarmt. Sie keucht ein paar Sekunden, weil ihr wieder einfällt, daß Magdalenas Geruch immer etwas an sich hatte, was bei ihr Übelkeit auslöste, etwas, dem sie entkommen wollte. Auch Magdalena macht ihr ein Kompliment wegen ihres Aussehens, und Emilia gratuliert Magdalena mit kaum hörbarer Stimme zu Ullas Geburt.
Dann geht sie zu Ingmar, der sich vor ihr verbeugt, als wäre sie eine Fremde, und ihr die Hand küßt. Die anderen Brüder folgen seinem Beispiel, verbeugen sich und küssen ihr die Hand, als hätten sie die Vorstellung, Emilia sei nicht wirklich ihre Schwester, sondern eine hochgeborene Hofdame Kirstens, der sie für einen Tag die Treue geloben.
Kirsten sieht sich das alles an und ruft dann: »Oh, meine Lieben, ihr braucht eure Freude nicht so zurückzuhalten! Benehmt euch doch Emilia gegenüber so, als wäre ich gar nicht da. Warum umfangt ihr sie nicht? Herr Tilsen, warum nehmt Ihr sie nicht in die Arme?«
Sie wartet gerade so lange, daß sie das aufkeimende Unbehagen in Johanns Augen sieht, gerade so lange, daß sie in Magdalenas Gesicht eine plötzliche Verwirrung erkennen kann, und sagt dann rasch, bevor sich jemand rührt: »Oh, aber sicher! Es ist eure natürliche Bescheidenheit und steht euch wohl an. Ich hätte euch mit einer solchen Bemerkung nicht in Verlegenheit bringen dürfen! Der König hat immer gesagt, ich sei zu unüberlegt mit meinen Äußerungen. Wie recht er hatte! Ihr werdet Emilia umarmen, wenn ihr es für richtig haltet!«
Kirsten sieht – völlig richtig – die Erleichterung in Johanns Augen und Magdalenas Lächeln und hastet weiter, während sie gefangen in der Halle stehen, zögernd und unsicher, ob von ihnen vielleicht doch noch eine Geste Emilia gegenüber erwartet wird. »Jetzt fällt mir aber etwas Merkwürdiges auf«, sagt Kirsten und läßt den Blick über die Reihe der Tilsens schweifen. »Sagt mir, habe ich falsch gezählt – ich war nämlich im Rechnen nie so gut, wie ich es gern gewesen wäre –, oder fehlt jemand von euch?«
Niemand rührt sich oder sagt etwas. Kirsten faßt Matti in die dunklen Locken und fragt ihn: »Haben wir dir das Kätzchen geschickt? Bist du der jüngste der Knaben oder … aber nein, jetzt erinnere ich mich, er ist ja erst fünf Jahre alt, der jüngste. Stimmt das, Emilia?«
»Marcus«, sagt Emilia.
»Ja, so hieß er«, meint Kirsten. Ihr furchtbares Lächeln verleiht ihren Gesichtszügen plötzlich eine beunruhigende Schönheit. »Also, wo ist Marcus? Ich muß natürlich mit euch allen bekannt werden.«
Magdalena sieht Johann an. Die jüngeren Knaben blicken auf ihre frisch geputzten Schuhe.
»Madam …«, setzt Johann an.
»Vielleicht ist er ja mit seinem Pony ausgeritten oder spielt mit dem Kätzchen? Hat er es denn, wie er sollte, auf den Namen Otto getauft?«
»Ja«, stammelt Johann, »das Kätzchen heißt Otto. Doch wir mußten Marcus …«
»Marcus macht seine Aufgaben nicht«, meint Boris.
»Nur für kurze Zeit, während …«, erklärt Magdalena.
»Ach du meine Güte!« meint Kirsten. »Jetzt bin ich noch verwirrter als zuvor. Heraus damit! Wir haben Otto ein kleines Wollknäuel mitgebracht, nicht wahr, Emilia?«
Emilia nickt. Sie weiß, daß man ihr gleich etwas sagen wird, was sie lieber nicht hören würde.
Es ist Magdalena, die es dann ausspricht. »Leider«, sagt sie, »ist es uns nicht gelungen, obwohl wir als liebe Familie nichts unversucht gelassen haben, ihn … in die Welt einzuordnen. Er wird von Herrn Haas betreut. Wir glauben, daß er durch harte Arbeit und eifriges Lernen geheilt wird.«
»Wovon geheilt?« fragt Kirsten.
»Von seiner
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