Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Morgen aufwache, finde ich meinen Otto neben mir und streichle ihm übers blonde Haar, so daß er in den Tag hineintänzelt …
Doch was, wenn der Lautenist halsstarrig ist und nicht tut, worum ich ihn bitte? Was, wenn seine Treue zum König stärker ist als seine Liebe zu Emilia, so daß beide Lieben verloren sind und sie nichts hat und ich nichts habe und wir beide dazu verdammt sind, zusammen in Einsamkeit auf Boller beim Kartenspiel alt zu werden?
Wie kann man Emilia dann trösten?
Und wie finde ich Ruhe oder Trost?
O mein Gott, wie bin ich müde, und es ist so spät! So spät in dieser Winternacht. Und die Jahre vergehen und vergehen und können nicht verlangsamt oder angehalten werden.
Der Regen hat aufgehört.
Im Park von Boller steht ein großer Baum, dessen Blätter im Spätherbst purpurfarben sind und wie kostbare Steine in der Sonne leuchten.
Und wenn ich die Schönheit dieses Baumes trotz des Winters sehe, dann kehrt meine eigene Liebe zum Leben zurück. Und ich weiß, daß ich meine verbleibenden Jahre nicht allein vergeuden kann, sondern zu meinem Geliebten muß. Es gibt keine andere Zukunft für mich.
Daher denke ich mir eine gute List aus. Ich schreibe dem Lautenisten wie geplant, aber ohne Reue oder Schuld dabei zu empfinden. Denn was mir erst wie ein Verrat an Emilia erschien, ist bei näherer Überlegung nichts dergleichen. Im Gegenteil, ich erweise ihr einen großen Dienst, wenn ich ihren Geliebten auf diese Art prüfe, und sie wird mir früher oder später dankbar dafür sein.
Denn wenn Peter Claire sie wirklich liebt, nun, dann wird er sich nichts dabei denken, aus den Papieren des Königs ein paar Seiten mit Berechnungen herauszunehmen, die Seine Majestät vielleicht niemals vermissen wird. Er wird einfach den richtigen Zeitpunkt abwarten und dann tun, worum ich ihn gebeten habe.
Sicher, wenn er ein ehrenhafter Mann ist, dann bereitet ihm die Tat vielleicht ein paar Stunden Pein, doch was ist diese Pein schon verglichen mit der, die mit dem Verlust des geliebten Menschen einhergeht, für den es auf der ganzen Welt keinen Ersatz gibt? Sie ist nichts. Sie ist wie der Schnee, der erst in großen Haufen in den Tälern liegt und dann an einem einzigen Tag verschwindet.
Und so beginne ich zu schreiben:
Mein lieber Mr. Claire,
ich möchte Euch hiermit mitteilen, daß mir Euer an Miss Tilsen gerichteter Brief von seinem Überbringer aus Hillerød in die Hände gelegt worden ist. Ohne jemandem schaden oder den Worten eines anderen hinterherspionieren zu wollen, sondern nur in der Annahme, daß jede Nachricht vom Hof an mich, die Frau des Königs, gerichtet sein muß, öffnete ich den Brief und begann ihn zu lesen …
DIE VISION
König Christians Gemächer auf Schloß Frederiksborg gehen nach Norden.
Als der Winter kommt und er auf den über den See fallenden Schatten des großen Gebäudes blickt (der auch, allerdings unsichtbar für ihn, seinen eigenen enthält) und die Kälte in den Mauern spürt, die erst im Sommer wieder von der Sonne vertrieben wird, fragt er sich: Warum ist das Schloß so entworfen worden?
Er hat es selbst entworfen. Er hatte eine Vision gehabt, wie es sein könnte.
Er hatte auf den alten, von seinem Vater König Frederik erbauten Palast geschaut, auf das Wasser, das durch Kanäle und Stauseen von so weit her wie Allerød geflossen kam, um den See zu füllen, auf die vielen Meilen dichten Wald, der alles umgibt, und auf das Land, das sich über sechsundzwanzig Pfarrbezirke erstreckt, und gesehen, daß er hier in Hillerød ein Universum zu seinen eigenen Ehren errichten konnte.
Christian, der größer und kräftiger war als sein Vater, auch klüger als dieser, sehnte sich schon seit der Zeit der Rakete nach gewaltigen Dingen, die den Himmel herausforderten und von weitem gesehen werden konnten. Und das war es, wovon er hier geträumt hatte: von einem Zeugnis des Gewaltigen. Auf den großen Türmen seines neuen Palastes sah er Wetterhähne, die hoch und weit entfernt waren und sich auf goldenen Flügeln drehten.
Ihm fällt nun wieder ein, wie ihn seine Träume von Frederiksborg beschäftigten. Er hatte damals in einer einzigen Nacht begriffen, daß die Architektur nach Ordnung und Einheit streben und ganz allmählich wie ein Musikstück über die miteinander verbundenen Inseln ansteigen mußte zum Höhepunkt der Konstruktion. Er hatte den holländischen Architekten Hans Steenwinckel im Morgengrauen geweckt und ihm einen Haufen Zeichnungen gezeigt. »Hans«,
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