Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Dunkelheit unsichtbaren Garten – »ist aus einer Laune, einer Schwärmerei heraus entstanden, und ich weigere mich, weiterhin darin zu verweilen.«
DER BESUCH
Vibeke Kruse nimmt allmählich ab.
Dieser Fettabbau an ihrer Taille und ihrem Bauch sowie ihren Oberschenkeln und Armen scheint seit Kirstens und Emilias Eintreffen auf Boller auf ganz wundersame Art stattzufinden. Und als sie erst einmal ein paar Pfund verloren hat, ermutigt sie dies, endlich die Opfer zu bringen, zu denen sie Ellen Marsvin gedrängt hatte: auf die Torten, Obstkuchen und Puddinge zu verzichten, die sie so köstlich findet, und darauf, neben ihrem Bett kleine Körbchen mit gezuckerten Pflaumen und in Pfirsichweinbrand getauchten Rosinen anzuhäufen, um ihren quälenden Hunger mitten in der Nacht zu stillen.
Sie kann sich nun wieder erlauben, von den herrlichen Kleidern zu träumen, die sie nie tragen konnte, die aber jetzt in Fru Marsvins Ankleideraum auf sie warten. Sie begibt sich oft auf Zehenspitzen dorthin, nimmt die Umhüllungen ab und sieht sie sich an. Mit den Fingern folgt sie dem Verlauf der Stickereien und streicht sie über die Samtschleifenbüschel. Sie wünschte, die Kleider wären in ihrem eigenen Zimmer untergebracht, so daß sie sich, wenn sie in den frühen Morgenstunden ein heftiges Verlangen nach Süßem befällt, den honigsüßen Satin eines Puffärmels oder die lockere Obstsahne einer Spitzenstulpe an die Zunge halten könnte.
Doch Vibeke tröstet sich mit der Gewißheit, daß es nun nicht mehr lange dauern wird, bis sie endlich diese Wunder anziehen kann. Und danach wird noch etwas anderes geschehen – das weiß sie im tiefsten Innern ihres Herzens. Ellen Marsvin hat über dieses andere kein Wort verloren, doch Vibeke weiß, daß es bevorsteht. Es gibt da einen Plan.
Als die Tage vergehen, die Blätter fallen und Vibeke Kruse das Gefühl hat, der strahlende Herbst spiegle sich in ihrem Gesicht und ihren lebhaften Augen wider, hat Emilia Tilsen im seltsamen Gegensatz dazu den Eindruck, unaufhaltsam in eine tiefe Düsternis zu sinken.
Wenn sie in den Spiegel blickt, sieht sie ein Gesicht, das sie fast nicht mehr wiedererkennt. Es ist nicht das, welches sie auf Rosenborg sah, ihre Lippen sind nicht die, die einst von Peter Claire geküßt wurden, und ihre Augen nicht die, in die er schaute. Sie verflucht das Schicksal, das sie wieder nach Jütland gebracht hat. Sie ist mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, daß sie in dieser Gegend nur glücklich sein konnte, solange Karen am Leben war. Nun lastet selbst der Himmel auf ihr, der Duft der Wälder, das Geräusch des Winds …
Sie hat noch keinen Brief aus Kopenhagen erhalten.
Um sich zu trösten, versucht sich Emilia vorzustellen, wie lange wohl ein Brief bis zu diesem entlegenen Ort brauchen würde. Sie hat einen langsamen, müden Gaul oder Maulesel und eine aufgeweichte Posttasche vor Augen. Sie versucht sich einzureden, daß es leicht Wochen – oder sogar Monate – dauern kann, bis sie eine Nachricht aus Rosenborg in der Hand hält. Und wenn sie von Kirsten mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen gefragt wird: »Was ist mit dem englischen Lautenisten, Emilia? Was für Lieder schickt er dir?« antwortet sie schlicht, daß es noch keine Lieder gibt.
» Noch keine?« fragt Kirsten. »Was bedeutet dieses Noch, meine liebe Emilia? Lastet auf diesem Noch nicht ein Erwartungsdruck, den es eigentlich nicht tragen kann?«
»Nein«, sagt Emilia. »Das glaube ich nicht.«
Denn sie glaubt, daß etwas eintreffen wird. So wie Vibeke Kruse weiß, daß das Leben noch ein paar Wunder für sie bereithält, so weiß Emilia Tilsen, daß das, was seinen Anfang im Keller von Rosenborg nahm, als die Hühner im Staub herumscharrten, und im Freien bei den herumflatternden Vögeln am Vogelhaus weiterging, nicht einfach so verklingen kann. Es ist bloß so, sagt sie sich, daß es Zeiten im Leben gibt, in denen Geduld der einzige Seelenbegleiter sein muß. Wenn sie manchmal, wenn sie im Bett liegt und auf die Rufe der weißen Eulen in den Wäldern lauscht, in Gedanken Briefe an Peter Claire aufsetzt, weiß sie, daß sie diese nicht schreiben oder aber, falls doch, nicht abschicken wird. Sie wird warten. Das ist alles. Sie wird darauf warten, daß Peter Claire seine Versprechen hält.
Inzwischen kündet ihr Kirsten an, daß es nun an der Zeit ist, Johann und Magdalena einen Besuch abzustatten.
»Wir melden uns kurz vorher an – einen Tag in etwa –, denn das gebietet die
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