Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
eine Schüssel Wasser. Sie legt sie neben die Ballen vom Grasschnitt des heißen Sommers des Jahres 1627 , ihr einziges Bett. Und dann umfassen sie sich alle, sie, die Hebamme, Kirsten und Emilia. Sie bilden so etwas wie ein Menschenboot, und dieses Boot bewegt sich und schaukelt nun zum Gesang der Hebamme. Es ist ein rhythmisches Lied wie ein Lied vom Meer, das sie immer singt, wenn sie weiß, daß das Kind und seine Mutter in ihrem Bemühen eins sind und der Augenblick heranrückt und leicht sein wird.
Das Kind ist ein Mädchen.
Es wird im tiefstehenden Winterlicht gewaschen und untersucht. Dann wird es in die Lappen gewickelt und Kirsten an die Brust gelegt.
»Emilia«, fragt sie. »Welcher Name ist wohl schön genug?«
DAS SCHIFF »ANNA-FREDERIKA«
Die Anna-Frederika war ein Frachtschiff, das unter der Herrschaft Frederiks II . gebaut worden war.
Es hatte nie gehalten, was sein hübscher Name versprochen hatte. Es war schwer und klobig, ein Schiff, das niemand je wirklich mochte. Es wäre vielleicht längst nicht mehr eingesetzt, sondern abgewrackt worden, wenn König Christian nicht so sehr an Geldmangel gelitten hätte. Daher wurden die Lecks gestopft und ausgebessert und die abgenutzten und verwaschenen Decks abgekratzt und neu lackiert. So pflügte es weiterhin durch den Kattegat und in die Ostsee, transportierte Wolle und Hanf nach Finnland und kehrte mit Kupfer und Blei zurück.
Das Schiff hatte Anfang November den Horsens-Fjord mit einer Ladung Schafshäute, Seile und Bindfäden in Richtung Finnland verlassen, doch waren auch Briefe und Pakete für Kopenhagen an Bord, wo es für die erste Etappe seiner Fahrt durch die Ostsee neu versorgt werden sollte.
Beim Auslaufen der Anna-Frederika blies ein mäßiger Westwind. Dieser drehte jedoch, so daß nun ein rauher Sturm aus dem Norden an den Segeln riß. Diese waren stabil, gefertigt von Männern, die von König Frederiks Erlaß gegen Schludrigkeit gehört und ihn beachtet hatten. Das Segelleinen blähte sich auf und spannte sich beim Versuch, den Wind abzuhalten, doch dann wurde das Schiff nach den Worten des Kapitäns zu »einer alten, betrunkenen Dame, die in ihre Röcke furzt«.
Als er den Befehl zum Herablassen des Marssegels erteilte, sah er, daß die Wanten des Hauptsegels ausgefranst und morsch waren. Er fluchte leise vor sich hin und brüllte, man solle es reffen, bevor sein großes Gewicht den Hauptmast entwurzele und auf das Deck krachen lasse. »Wenn wir zum Samsøer Meer kommen«, fauchte er seinen Bootsmann an, »webt Ihr und Eure Männer etwas neue Stärke in diese Seile, und zwar schnell, damit wir weiterfahren können!«
Das Schiff machte volle Fahrt, schob das Wasser beiseite und versuchte auf den Wellen zu reiten. Es war jedoch, als ob der alte, unbeholfene Körper der Anna-Frederika von so vielen Schmerzen geplagt würde, daß er sich wünschte, vom Meer von allen weiteren Mühen erlöst zu werden, als warte er nur auf eine ferne, alles überragende Welle, die über ihm zusammenbrach und ihn in die ruhige, schweigsame Tiefe hinabführte, wo die Wale aus König Christians Phantasie in der Dunkelheit lauerten.
Der Kapitän verfluchte sein Schiff. Er versuchte die Ohren vor seinem Stöhnen und Ächzen zu verschließen. Er wollte nicht sterben. In seiner Wut schickte er den Bootsmann in den Laderaum hinunter, um »Seile von der öden Ladung, für die wir alle unser unbedarftes Leben riskieren«, zu mausen.
Die Dunkelheit der Ladekammer, die Kälte dort unten und das angestammte Gefühl der Mannschaft, daß es sich um einen menschenunwürdigen Platz handelte: all dies beeindruckte den Bootsmann stärker denn je, als er mit der Lampe in der Hand hinunterkletterte.
Als er jedoch nach den Seilballen suchte, wurde er einer anderen Sache gewahr, einer, die er nicht erwartet hatte: Die Ladung hier unten stank. Der Gestank war so ekelhaft, so erstickend und schrecklich, daß der Mann stehenbleiben und sich an einem Pfosten festhalten mußte, weil er von einer plötzlichen Übelkeit ergriffen wurde. Ihm floß Schweiß übers Gesicht und zwischen den Schulterblättern am Körper hinunter. Er versuchte, den Brechreiz in den Griff zu bekommen, was ihm aber nicht gelang. Er übergab sich, sein Körper zuckte krampfartig, und die Lampe glitt ihm aus der Hand und fiel auf den Boden.
Er wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel ab. Dann spuckte er in einen geteerten Abfluß, wo sich abgestandenes Meereswasser von wohl hundert Fahrten angesammelt
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