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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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ihn – und Kirsten auch nicht. Manchmal fühlt sie sich versucht zu fragen: »Das, was Ihr in der Nacht gesagt habt, als wir im Wagen des Fischhändlers fortfuhren! Das über die ›irische Hure‹! Sagt mir, was Ihr damit gemeint habt und was Ihr wißt!« Doch sie fragt nicht, aus Angst, es könnte – mit der Antwort, die erfolgen würde – etwas Endgültiges gesagt werden. Aus Kirstens Schweigen über dieses Thema liest Emilia schon ein solches Ende heraus, will es sich aber nicht bestätigen lassen.
    Als die Kutsche nun auf Århus zufährt, fällt ihr das Geheiß ihrer Mutter wieder ein: Zeig Mut, Emilia! Sie ist sich darüber im klaren, daß sie sich beim Besuch im Haus ihres Vaters in Angst versetzen lassen hat. Nur für Kirsten scheint sie noch Mut aufbringen zu können, denn sie hat begriffen, daß Kirstens Probleme so tief und anhaltend sind wie ihre eigenen und sie sich ohne Kirsten tatsächlich in einer leeren Welt befinden würde. Kirstens Wille, denkt sie manchmal bewundernd, hält sie beide am Leben. Sollte eines Tages alles in Ordnung kommen, dann hätte es Kirsten zuwege gebracht. Dann hätte sie alle verschwundenen Menschen, ganz gleich, wo sie sich versteckt hielten, wieder herbeigezaubert.

    Als sie einige Meilen zurückgelegt haben, verschwindet die Sonne hinter einer grauen Wolkendecke, und Kirsten und Emilia sehen, daß der Reif auf den Feldern nicht mehr da ist und es leise zu regnen beginnt.
    Kirsten taucht aus ihrem Schweigen auf und sagt: »Nun, meine liebe Emilia, ich hoffe, du hast unseren Plan deutlich im Kopf. Wenn wir in die Stadt kommen, bleiben wir im Wagen und lassen uns nicht blicken, und unser Kutscher Mikkel macht sich zu Fuß auf den Weg, um sich nach Herrn Haas und seinem abscheulichen Haus zu erkundigen.
    Wenn Mikkel das Haus gefunden hat, geht er unter dem Vorwand hinein, eine Nachricht für Marcus von seinem Vater zu haben. Erst dann, wenn Mikkel zur Kutsche zurückkommt und uns sagt, daß Marcus wirklich dort ist, tauchen wir auf und zeigen uns. Denn wer kann schon sagen, welche Lügen Magdalena über uns verbreitet hat? Vielleicht hat sie ja gesagt, daß wir Hexen sind, die Kinder wegzaubern und sie aus den Wolken zu Tode stürzen lassen!«
    Emilia nickt. »Magdalena ist die Hexe«, erwidert sie.
    »Ganz recht! Und deshalb ist sie teuflisch listig und einfallsreich. Denn konnte sie nicht, als sie uns sagte, wo Marcus hingebracht worden ist, voraussehen, daß wir eines Tages dorthin gehen und versuchen würden, ihn rauszuholen? Wir können sicher sein, daß sie ihr Bestes getan hat, um uns daran zu hindern. Wir wissen zwar nicht, was, sondern können nur erraten, daß sie etwas getan hat. Wir müssen sie also überlisten.«
    Emilia nickt wieder, und nun sehen sie, daß die Kutsche den Stadtrand erreicht hat. Auf den Dächern und Schornsteinen der Häuser hocken im Regen Seemöwen.
    »Oh«, sagt Kirsten, »sieh doch diese geduldigen Vögel, denen die Nässe nichts ausmacht. Sie bringen mich auf den Gedanken, daß diese Reise wenigstens einen Vorteil hatte: Wir mußten in der Kutsche nicht mit deinem Huhn fertig werden!«
    Die beiden Frauen lächeln, und dann sieht Emilia, wie sich Kirstens Gesicht plötzlich und ohne Vorwarnung verzerrt, sie die Felle umklammert und zu sprechen versucht, es aber nicht kann. Emilia hält sie und bittet sie, ihr zu sagen, was los ist. Gleichzeitig ruft sie dem Kutscher zu, er solle anhalten. Emilia hört ihn die Pferde zügeln, spürt die Kutsche auf der nassen Straße rutschen und schlittern, und dann bekommt Kirsten wieder Luft und schreit keuchend: »Das Kind, Emilia! Das Kind!« In dem Moment merkt Emilia, wie sich warme Flüssigkeit über ihre Schuhe ergießt, und betet, es möge Wasser und nicht Blut sein. Ein paar der Felle gleiten hinunter und wickeln sich um ihre Füße, und Kirsten tritt vor Entsetzen und Schmerzen so um sich, daß Emilia sie nur mit Mühe stillhalten kann.
    »Keine Angst …«, hört sie sich sagen. »Keine Angst …«
    Schließlich hält die Kutsche, und Mikkels vor Kälte gerötetes und vom Regen nasses Gesicht taucht in der Tür auf. Er blickt entsetzt auf die sich vor Schmerz krümmende Kirsten und das stellenweise leicht blutige Wasser, das sich jetzt über den Boden der Kutsche ausbreitet. Wie angefroren, sowohl von der Kälte der Fahrt als auch von dem Anblick, steht Mikkel da.
    Zeig Mut, Emilia.
    »Mikkel«, sagt sie möglichst ruhig. »Geht in eins dieser Häuser, auf denen die Möwen hocken, und sagt

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