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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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hatte. Er stand still da, hielt sich an einem Holzbalken fest und versuchte sich zu fangen. Er wußte, daß er sich im schwachen Licht des noch nicht ganz zur Neige gegangenen Tages im Laderaum bewegen konnte, um nach dem Seil und der Ursache des Gestanks Ausschau zu halten, fühlte sich aber so schwach, daß er kaum den Arm heben oder aufrecht stehen bleiben konnte.
    Er zitterte. Er zwang sich dazu, sich langsam vorwärts zu tasten. Bei jedem Schritt erwartete er, auf Leichen zu stoßen. Das Schiff schlingerte und trudelte noch immer, und es erschien dem Bootsmann, als er so herumstolperte und verzweifelt nach Luft rang, als lauere hier unten in der Anna-Frederika die Hölle und beanspruche ihn für sich und als würde nichts in seinem Leben je wieder schön sein.
    Er versuchte dieses Gefühl zu bannen, indem er an Sommermorgen vor der Insel Gotland dachte, an Lindenduft in Vinderup, dem Dorf seiner Kindheit, und an seine kleine Tochter, die nach bügelwarmem Leinen roch. Er wußte aber, daß sein Verstand nicht mehr erfaßte, was war oder sein könnte, daß sich seine Schritte in einem bedeutungslosen Tanz drehten, seine Tochter an einen Ort verschwunden war, den er nicht erreichen konnte, und das Licht am Himmel erloschen war. Er fiel auf einen Haufen Schafshäute und spürte, wie er in ihrem Gestank versank und ertrank.

    Erst als der Nordwind abflaute und sich die vertrauten Umrisse Samsøs am Horizont abzeichneten, sah sich der Kapitän nach dem Bootsmann um und stellte fest, daß die Türen zum Laderaum noch offenstanden.
    Beim Nachlassen des Sturms drang der Geruch nun auch nach oben ans Deck, und einige der Schiffsmannschaft standen am Eingang zum Laderaum, hielten sich die Nasen zu und blickten bestürzt hinunter.
    Zwei Matrosen erhielten den Befehl, den Bootsmann hochzuholen.
    Er war nicht tot, doch seine Haut hatte die Farbe von Schweineschmalz, und sein Puls war so schwach, daß er kaum noch auffindbar war. Er versuchte zu sprechen, doch sein Kiefer war starr. Mit seiner Kleidung und seinem Haar wurde der Gestank des Laderaums hinauf aufs Deck getragen.
    Sie legten ihn in seine Koje. Der Kapitän blickte mit einem Taschentuch vor Mund und Nase auf ihn, verfluchte den Sturm, verfluchte den König, weil er ihm kein seetüchtiges Schiff gegeben hatte, und verfluchte das Schicksal, das eine unbekannte, ekelhafte Sache an Bord seines gräßlichen Kahns gebracht hatte.
    Der Bootsmann starb noch in der Nacht. Der Laderaum wurde verriegelt und mit einem Vorhängeschloß versehen und eine am Deck befestigte Plane darübergezogen. Die zerrissenen Wanten wurden mit Tau- und Seilresten geflickt. Mit Mühe und Not erreichte die Anna-Frederika Kopenhagen.
    Am nächsten Tag starben auch die beiden Matrosen, die den Bootsmann aus dem Laderaum geholt hatten, und der Kapitän ordnete an, alle drei Leichen bei der Insel Hesselø ins Meer zu werfen.
    Es war ihm aber nun klar, daß er und die Anna-Frederika dem Untergang geweiht waren. Wie erwartet wurde das Schiff vor Kopenhagen in Quarantäne geschickt. Wer diese überleben sollte, würde an Land gehen dürfen, doch die Anna-Frederika und ihre Fracht würden auf dem Meer verbrannt werden.

    An den folgenden Tagen, an denen der Kapitän seinen Körper und die der anderen Offiziere und Matrosen auf Krankheitszeichen hin beobachtete, wanderten seine rastlosen und sorgenvollen Gedanken manchmal zu dem Sack mit Briefen, der im Laderaum bei den infizierten Häuten lag, und zu den Personen, die diese nun nie erhalten würden, und er fragte sich, ob es darunter wohl ein Schreiben gab, in dem Worte standen, die nicht flüchtig und leer waren, sondern vielmehr von entscheidender Bedeutung im Leben eines Menschen.
    Er dachte über die Launenhaftigkeit des Glücks nach, das so unsichtbar wie der Wind war und, wie dieser, nicht einer Ordnung unterworfen werden konnte, nicht einmal durch ein Gebet. In dieser Hinsicht, dachte er, sind alle Menschen Seeleute wie wir. Doch diese Beobachtung brachte ihm keinerlei Trost.
    Was der Kapitän der Anna-Frederika nicht wußte, nicht wissen konnte, war, daß unter den Briefen, die dazu bestimmt waren, verbrannt zu werden, der lange Kirsten Munks an Peter Claire war, in dem sie versuchte, den englischen Lautenisten zu erpressen, damit er für sie spionierte. Er würde nun sein Ziel nicht erreichen, sondern im alles verzehrenden Feuer verbrennen.

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