Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Vor den Kriegen gegen die Liga gab es in meiner Schatzkammer mehr Daler, als Dänemark je hätte ausgeben können, und nun ist dort nichts !«
Die beiden Männer schweigen eine Weile, Peter Claire in Gedanken noch mit den Dokumenten beschäftigt. Unter seinen widersprüchlichen Überlegungen ist auch die, daß der König demnächst vielleicht versuchen wird, Geld einzusparen, indem er sein Orchester hinauswirft.
Als Peter Claire schließlich entlassen wird und zu Bett geht, kann er nicht einschlafen. Er setzt sich wieder auf und zündet eine Kerze an. Die Gedanken schlängeln ihm durch den Kopf wie bunte Adern im Marmor. Er stellt sich vor, wie er eine Reise nach Jütland unternimmt und Emilia in einer Lindenallee auf ihn zuläuft. Er stellt sich vor, wie ein Tannenwald abgeholzt wird und sich eine riesige Papiermühle aus dem sandigen Boden erhebt. Er stellt sich vor, wie Francesca am Strand von Cloyne spazierengeht. Und er stellt sich vor, wie Emilia auf halbem Wege der Allee umkehrt und ihm davonläuft, ohne sich noch einmal umzusehen.
DIE FAHRT NACH ÅRHUS
Der erste Frost ist gekommen.
Als Kirsten in die Kutsche steigt, sagt sie zu Emilia: »Diese Luft ist tödlich.«
Der Kutscher legt ihnen Felle über den Schoß, und sie machen sich von Boller aus in Richtung Norden auf den Weg. Eine gelbe Sonne spült den Nebel weg und bringt das saubere, glitzernde Weiß der Wälder und Felder zum Vorschein.
Sie sind heimlich zu Herrn Haas’ Haus, der Besserungsanstalt, unterwegs, um nach Marcus Ausschau zu halten. Sonst redet und plaudert Kirsten gern während der Fahrt, um die Langeweile und das Unbehagen in Schach zu halten (»Denn was ist Reisen anderes als eine Qual für die Knochen und den Magen?«), an diesem kalten Morgen aber schweigt sie, achtet auf die Schönheit der Landschaft, durch die sie fahren, ist sich aber auch darüber im klaren, wie gemein diese Dezemberkälte ist, was sie nun wiederum an alles Unerfreuliche in ihrem Leben erinnert, während es doch eigentlich vergoldet sein sollte.
Otto ist noch in Schweden, und ihre Pläne zur Wiedervereinigung mit ihm entwickeln sich nicht wie gewünscht. Auf ihren Brief an Peter Claire – der Frederiksborg doch jetzt bestimmt erreicht hat? – hat sie keine Antwort erhalten. Der Gedanke, daß der Lautenist diesen dem König gezeigt haben könnte, bereitet ihr so viel Entsetzen, daß sie gar nicht daran zu denken wagt.
Sie traut sich auch nicht, Otto zu schreiben. Bei der Übersendung einiger (aber nicht aller) der von ihr erbetenen Möbel aus Rosenborg hat sie der König gewarnt: Du gehst aller Dinge verlustig und wirst ins Gefängnis geworfen, wenn Du dem Grafen Otto Ludwig eine Nachricht zukommen läßt. Du hast Dich so zu verhalten, als gäbe es ihn gar nicht auf der Welt. Und Du hast Dich so zu verhalten, solange Dein Leben andauert.
Und ihr Leben dauert an. Das ist alles, was es tut: andauern! Und wenn sie daran denkt, wie herrlich es ihr einst erschien, keimt heftige Wut in ihr auf, die sie zu ersticken droht. Dann heult sie und klammert sich an Emilia.
Sie weiß, daß es schrecklich klingt, wenn sie so heult und Emilia erschrickt, kann es aber nicht unterdrücken, und sie fragt sich, ob sie allmählich den Verstand verliert. »Ich bin verrückt!« jammert sie. »Emilia, ich bin verrückt!«
Doch heute ist sie ruhig, in Gedanken verloren über den Frost und den Winter, der ihr angst macht.
Die Kutsche holpert dahin, die Pferde schnauben und keuchen, die Hände des Kutschers sind taub, die Räder drehen und drehen sich, und die ganze Landschaft steht, wie Kirsten es empfindet, ihrem Vorbeifahren stumm und gleichgültig gegenüber.
Emilia hat den sorgenvollen Gedanken, daß alles verlorengeht: Leute, Orte, die Dinge, an denen sie hing; und daß alles, was noch nicht weg ist, auch bald verschwinden wird, so wie die Straße, auf der sie fahren, unter dem Schnee. Wenn sie Marcus heute nicht finden, wo wird er dann weiterleben? In der Erinnerung. In irgendeiner erhofften Zukunft. Doch wo ist er jetzt ?
Und ihr Geliebter? Denn so denkt sie an Peter Claire, als wäre sie seine Geliebte oder Braut und hätte alles erfahren, was Liebe bedeuten kann. Er ist auf Frederiksborg – jedenfalls nimmt sie das an –, doch für sie ist er an einem leeren Ort wie einem Loch im Himmel. Und da keine Nachricht von ihm eintrifft, kann sie ihn nicht mehr herbeirufen. Seine Gesichtszüge, so engelsgleich sie auch sind, verlieren ihre Konturen.
Sie spricht nicht über
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