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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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denen der Chirurg aus seiner Blase einen so schweren Stein hervorholte, daß man hätte meinen können, ein Kristall aus der Erde habe den Weg in ihn hineingefunden. Der Arzt selbst machte eine Bemerkung über Middletons stoische Gelassenheit, während seine Qual am größten war, und nach der Operation war Middleton so sehr er selbst, daß er dem Chirurgen überschwenglich dafür dankte, daß er ihm das Leben gerettet hatte.
    Dann lag er in seinem Schlafzimmer auf Cookham Hall und fragte sich, ob sein Leben nun gerettet war oder nicht.
    Die anhaltenden Schmerzen in seinem Magen und seinen unteren Körperteilen, wo sich das Messer zwischen dem After und dem Hodensack den Weg geschnitten hatte, waren so heftig und sein Fieber so launisch, daß er sich nicht vorstellen konnte, jemals wieder aufstehen zu können. Und es war wirklich so, daß der Mann, der er gewesen war – der jeden Tag im Park und auf dem Gutshof ausritt und ein Tänzchen wagte, wenn auf Cookham Gäste und Musiker waren –, keine Ähnlichkeit mit dem zu haben schien, der er jetzt war, und es erschien ihm unmöglich, die beiden zur Deckung zu bringen. Ein Teil von ihm war der Überzeugung, er würde sterben.
    Er sehnte sich danach, Charlotte zu sehen. Er sehnte sich danach, in eine Stunde die zärtlichen Worte eines ganzen Lebens zu zwängen. Es würde dabei keine Rolle spielen, wenn diese nicht elegant und nicht sehr vernünftig wären. Es würde nicht einmal eine Rolle spielen, wenn sie, nachdem sie ihren Weg durch den Nebel und die Feuchtigkeit seines Fiebers gefunden hatten, in einem peinlichen Wirrwarr herauskämen. Wichtig war nur, daß sie gesagt wurden und Charlotte sie hörte und sich an sie erinnern könnte, wenn er dahingegangen war.
    Er schickte eine Kutsche nach Harwich, und Charlotte und ihre Mutter Anne kamen in der kalten Dezembernacht auf Cookham Hall an.
    Als seine »liebe Daisy« in das Zimmer kam und an seinem Bett stand und seine Hand hielt, stieß George Middleton einen Juchzer aus. Und dieser Juchzer, der sein großes Staunen beim Anblick seiner Verlobten ausdrückte, löste bei Charlotte einen solchen Tränenschwall aus, daß sowohl der Ärmel seines Nachthemds als auch das Leintuch, mit dem er zugedeckt war, von ihren Tränen rasch schlapp und warm wurden, als sie den Kopf in Middletons Armbeuge legte.
    »Daisy …«, sagte Middleton.
    Doch sie konnte nicht sprechen. Ihr Herz sagte ihr, daß es Dinge im Leben gab, die unerträglich waren. Sie wußte, daß sie es nicht ertragen könnte, wenn George von ihr genommen würde.
    »Daisy!« wiederholte Middleton und strich ihr übers Haar. »Sei tapfer, mein lieber kleiner Liebling.«
    »Ich kann nicht«, weinte sie. »Ich kann mich nicht erinnern, was Tapferkeit ist und wie man sie erlangt.«
    George Middleton mußte lächeln. Er wußte, daß einer der Gründe, weshalb er weiterleben wollte, sein ständiger Wunsch war, derartige Äußerungen zu hören. Es war, als amüsiere Charlotte einen Teil von ihm, der noch nie amüsiert worden war. »Sieh nur, mein liebes Mädchen, was du angerichtet hast! Ich lache! Ich möchte behaupten, daß meine Schmerzen schon nachgelassen haben, seit du vor nur wenigen Sekunden hereingekommen bist.«
    Sie küßte ganz leicht seinen Kopf, sein Gesicht, sein Ohr und dann auch seinen schwarzen Schnurrbart. Dann blickte sie ihn an. Sie konnte sehen, welche Schmerzen er hatte, und wußte, daß er gelogen hatte, als er sagte, sie würden nachlassen. Selbst im sanften Lampenschein sah er noch blaß aus, während er vorher immer rosig und gesund gewirkt hatte, und seine Augen, auf denen die Lider so schwer lasteten, als würde er ihr im nächsten Augenblick entgleiten, glänzten wie Murmeln. »George«, sagte sie, »ich verlasse dich nicht wieder! Ich bleibe hier sitzen, bis du wieder gesund bist, und es macht mir nichts aus, wenn ich hier festwachse.«

    Er ließ es aber nicht zu, daß sie an seinem Bett wachte. Er sagte: »Meine Taube, wenn du das tust, kommen wir beide zu der Überzeugung, daß der Tod nebenan ist.«
    Nachdem er ihr in seinen ureigensten Worten, denen seines ungestümen Herzens und seiner Vorliebe für Possen, gesagt hatte, daß sie das liebste, süßeste und wunderbarste Wesen sei, das er je gekannt habe und je kennenlernen würde, gab er ihr eine Aufgabe. Er bat sie, tags darauf in seinen Park und seinen Garten zu gehen und ihm danach zu erzählen, was sie dort gesehen habe und wie es ihr erschienen sei, wie die Lichtverhältnisse am

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