Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
was seiner Meinung nach dasein muß. Er blickt auf den Boden. Dieser hat eine dicke Staub- und Rußschicht, so daß die Steine schwarz aussehen. Er sucht nach einer Falltür im Boden – so wie er sie auf Rosenborg im Vinterstue hat –, die noch tiefer in den Stein hineinführt, auf dem Kronborg errichtet ist, doch im ganzen Keller ist nichts zu entdecken.
Er setzt sich auf ein Weinfaß. Zum erstenmal fragt er sich, ob die Geschichte vom Schatz der Königinwitwe nicht wirklich einfach eine weitere der Unwahrheiten war, mit denen es Kirsten beliebte, ihn zu verspotten. Er schickt seine Männer weg, um den Rest des Schlosses zu durchsuchen, bezweifelt aber, daß sie den Schatz in einem Schlafzimmer oder Schrank versteckt finden werden, und weist sie an, keine allzu große Unordnung in den Räumen zu machen.
Er schweigt, das Fackellicht wärmt ihn, er blickt sich um und ist sich seines eigenen Schattens an der Wand bewußt. Er hat das in der Tiefe liegende Gold hundertmal vor sich gesehen – seinen Glanz, seinen wunderbaren Anblick, seine Solidität. Doch es ist nichts da: nur der Staub der Jahre und ein Weinvorrat, der schon zu lange in den alten Fässern lagert.
Als ihn die Kutsche nach Frederiksborg zurückbringt, denkt er darüber nach, wie die Lügen seiner Frau und seiner Mutter all die Jahre miteinander im Wettstreit lagen, um ihn zu verwirren und zu umgarnen, so daß er bei sehr vielen Angelegenheiten nicht mehr weiß, was Wirklichkeit und was Illusion ist.
DIE STEHENGEBLIEBENE UHR
Am Heiligabend sagt Kirsten zu Emilia: »Ich glaube, ich stelle für Sankt Nikolaus einen Schuh vor die Tür, damit er ihn füllen kann. Erwachsene haben Geschenke viel nötiger als Kinder, und ich weiß wirklich nicht, warum das nicht mehr anerkannt wird. Ich bitte den Heiligen, mir Otto zu bringen.«
Die beiden Frauen lachen darüber, und dann verkündet Kirsten, daß sie sich ins Bett zurückziehen will, um den Nachmittag mit Dösen und Träumen zu verbringen, und Emilia bleibt allein zurück.
Es ist ein grauer und kalter Tag. Emilia zieht sich einen Mantel an und fragt Ellen, ob sie ein Pferd für einen Ausritt im Park nehmen dürfe. Ellen und Vibeke spielen Karten, und Ellen blickt kaum auf, als sie erwidert: »Nimm den Grauschimmel! Die anderen sind zu kräftig für dich. Du bist dran, Vibeke!«
Emilias Stimmung hebt sich schon, als sie das Pferd besteigt. Sie spornt den Grauschimmel zu einem hübschen Trab an und spürt, wie ihr das Blut in die Wangen steigt. Sie stellt sich den Tag vor, an dem sie für immer von Boller wegreiten wird, weit weg von den Obstgärten der Tilsens. Und am Ende ihrer Reise wartet ihr Geliebter auf sie …
Denn trotz Peter Claires Schweigen, trotz ihres Wissens um seine frühere Liaison mit der Gräfin O’Fingal hält etwas in Emilia hartnäckig an dem Glauben fest, daß er sie liebt. Seine Liebe hat sie einfach noch nicht erreicht, das ist alles. Und zwar hat sie sie nicht erreicht, weil sie irgendwie anderswo eingesperrt ist. Sie kann nicht unbedingt sagen, wo dieses »Anderswo« sein könnte. In letzter Zeit stellt sie sich vor, es sei der Keller von Rosenborg, der jetzt, weil der König nach Frederiksborg gezogen ist, verwaist ist, aber in seiner Dunkelheit Worte und Gedanken verbirgt, die eines Tages wieder geäußert werden. Nach und nach wird der Keller in ihrer Phantasie immer weniger ein Keller und immer mehr eine Kammer im Herzen des Lautenisten.
Sie weiß, daß all dies wunderlich und kapriziös ist. Sie weiß, daß es zu der Seite ihrer Natur gehört, die sie mit Marcus teilt – zu ihrer Neigung zum Träumen und Erfinden – und der ihr Vater mit Mißtrauen und Furcht gegenübersteht. Zum hundertstenmal in ihrem kurzen Leben wünscht sich Emilia, ihre Mutter wäre bei ihr. Mit Karens Hilfe würde sie wissen, was sie glauben, ignorieren oder vergessen sollte.
Emilia reitet mit dem Grauschimmel in den Wald, der entlang der Grenze zu Johann Tilsens Land verläuft.
Sie zügelt das Pony und steigt ab. Dann führt sie es unter den Buchen und Eichen weiter, bis sie zu dem Zaun kommt, der die beiden Anwesen trennt. Sie muß nicht überlegen, denn sie weiß genau, wo sie ist. Sie bindet das Pferd an den Zaun und klettert hinüber.
Es ist, als haben sie die Gedanken an Karen hierhergeführt, ja, als sei Karen bei ihr und beschütze sie oder mache sie unsichtbar, so daß sie von Johann, Ingmar oder Magdalena, wenn diese vorbeigeritten kämen, nicht gesehen würde.
Emilia geht zum
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