Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Steigbügelriemen befestigt sie die Uhr am Sattel, und dann reiten sie sehr langsam – um sich und die Uhr vor einem Sturz zu bewahren – nach Boller zurück. Es schneit noch immer, und der Park liegt jetzt schon unter einer dicken weißen Decke.
Emilia spricht mit Marcus, sagt ihm, er sei nun in Sicherheit, was immer er erlitten habe, sei vorbei, er müsse nicht wieder zu Herrn Haas in Århus oder einer anderen Besserungsanstalt, er komme jetzt nach Boller, um Kirsten, die kleine Dorothea und das gesprenkelte Huhn Gerda kennenzulernen …
Doch Marcus antwortet nicht. Er sagt mit seiner kleinen Flüsterstimme Emilias Namen, immer und immer wieder, aber das ist alles. Er klammert sich an die Mähne des Pferdes.
Als es dunkler wird, blickt sich Emilia ab und zu um, halb in der Erwartung, in den rasch zunehmenden Schatten ihren sie verfolgenden Vater zu sehen. Einmal glaubt sie ihn zu hören – sein großes Pferd, den Schlag seiner Peitsche, seinen flatternden Umhang, seinen Atem in der kalten Luft – und treibt den Grauschimmel zum Galopp an. Doch dann verschwinden die Geräusche wieder, und nur noch die Schreie der Saatkrähen und das dumpfe Dröhnen der Pferdehufe sind zu hören. »Es ist wunderschön auf Boller«, flüstert sie. »Im Garten sind Teiche mit bunten Fischen, und in der Speisekammer sind zweihundert Töpfe Marmelade.«
Als sie ankommen, liegt Kirsten noch im Bett, bittet Emilia aber herein. Mit belegter Stimme, als habe sie getrunken, sagt sie, sie habe mit der magischen Feder eines deutschen Hexenmeisters gespielt. »Stell dir vor«, meint sie, »daß man sein ganzes Vergnügen jetzt von einer Feder bekommen muß!«
Emilia führt Marcus an der Hand zu Kirsten hinüber. Diese sieht ihn mit großen Augen über ihrem bestickten Bettuch mit den darauf gehäuften Fellen an. »Er ist ein Gespenst, Emilia!« sagt sie. »Sie haben ein Gespenst aus ihm gemacht.«
Marcus hat wie Emilia ein herzförmiges, blasses Gesicht, doch es ist so dünn wie das eines Almosenempfängers. Seine grauen Augen wandern durchs Zimmer, zu Kirsten, dann wieder von ihr weg, zu ihren Bettvorhängen, zu ihrer an einem Schrank aufgehängten Kleidung und dem in ihrem Kamin brennenden Feuer.
»Marcus«, erklärt Emilia freundlich, »das ist die Frau des Königs, Lady Kirsten. Machst du eine Verbeugung vor ihr?«
Emilia spürt, daß er am ganzen Körper zittert. Er hält ihre Hand fester.
»Nun«, sagt Kirsten, die mit der schwarzen Feder noch immer ihre vollen Lippen liebkost, »wir sind jetzt nicht am Hof! Gott sei Dank! Nur Narren verbeugen sich. Doch wo ist deine Katze, Marcus? Wo ist Otto?«
Bei dem Wort »Otto« blickt sich Marcus um, als könne der Kater im Zimmer sein. Als er ihn nicht findet, schüttelt er den Kopf.
»Ist der arme Knabe von Århus weggelaufen?« fragt Kirsten Emilia. »Wie hat er denn den weiten Weg zurückgelegt?«
»Ich weiß es nicht«, erwidert Emilia. »Ob er gar nicht dort war?«
»Gar nicht dort? Oh, mein Gott, Emilia, hast du dir schon mal überlegt, wie zum Teufel wir mit ihren unzähligen Täuschungsmanövern fertig werden sollen?«
Kirsten steigt nun in ihren Unterröcken und mit ihren nackten Beinen aus dem zerwühlten Bett und beginnt ihr wildes Haar zu bürsten. »Darüber hast du dir nicht genügend Gedanken gemacht!« meint sie ärgerlich. »Doch zu deinem Glück beginnt jetzt mein Verstand wieder zu arbeiten. Zunächst einmal brauchen wir die Mitarbeit von meiner Mutter und Vibeke und den anderen dämlichen Bediensteten. Sie müssen uns unterstützen – in allem, was ich in die Wege leite –, wenn nicht dein Vater kommen und uns den Knaben wegschnappen soll.«
»Ich nehme an, daß er es versuchen wird«, meint Emilia. »Es sei denn …«
»Es sei denn was?«
»Es sei denn, er hält es für einen Segen: auch das letzte meiner Mutter weg …«
»Ich glaube, darauf sollten wir uns nicht verlassen. Nun denn! Du mußt genau das tun, was ich dir sage, Emilia. Marcus schläft auf einer Liege in deinem Zimmer, und wenn du ihn auf Boller behalten willst, darfst du das arme kleine Gespenst nicht aus den Augen lassen!«
Marcus sieht zu, als die Matratze und Kissen auf die Liege gelegt werden. Dann setzt er sich auf den Boden und zieht seine Schuhe aus. Seine kleinen Füße sind rot und schmutzig. Er zieht noch sein braunes Wams aus, geht zum Bett und klettert hinein.
»Marcus«, sagt Emilia, »es ist jetzt keine Schlafenszeit. Nachher bekommst du noch ein Abendessen.«
Doch er
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