Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Fuß des Baums, wo ihr Karen vor langer Zeit einmal einen im Boden vergrabenen Gegenstand gezeigt hatte. Sie findet einen Feuerstein, den sie als kleine Schaufel verwenden kann, kniet nieder und beginnt zwischen den heruntergefallenen Blättern und Bucheckerschalen zu graben, tief in die nach früheren Jahreszeiten duftende, torfige Erde, bis ihre Hände etwas Festes und Hartes berühren.
Nun gräbt sie vorsichtiger und langsamer weiter. Am Rande nimmt sie wahr, daß es durch die Überdachung der kahlen Äste über ihr leicht zu schneien beginnt, beachtet es aber nicht weiter. Ihre Knie werden feucht. Am Zaun zum Boller-Anwesen schreien Fasane, und Saatkrähen krächzen und kreisen über ihren Stangen. Das Gefühl, daß Karen sie beschützt und jetzt über das, was sie tut, lächelt, ist so stark, daß sie fast erwartet, ihre in die Welt zurückgekehrte Mutter zu sehen, wenn sie den Kopf hebt.
Emilia holt den Gegenstand heraus, der etwa die Größe und das Gewicht eines Ziegelsteins hat. Wie eine Haut klebt die feuchte Erde um ihn herum. Sie muß sie mit den Nägeln abkratzen. Und dann sieht sie Zahl um Zahl ein Zifferblatt auftauchen: ein Gehäuse aus einst glänzendem Messing, römische Ziffern aus schwarzem Email auf weißem Grund. Und sie erinnert sich …
Sie ist vier oder fünf Jahre alt. Karen gräbt das Loch am Fuße des Baums. Sie spricht über die Zeit. Sie sagt, Emilia sei noch zu klein, um es zu verstehen. Und dann nimmt sie die Uhr und dreht an den Zeigern. Sie zeigt Emilia, wo sie stehen, und erklärt: »Das ist die Zeit, die sie immer anzeigen wird.«
Die Uhr kommt in das Loch, und Emilia und Karen schaufeln mit den Händen Erde darüber, dann Blätter und Schalen, und sie wird unsichtbar …
Emilia blickt auf die Uhr. Sie steht auf zehn Minuten nach sieben. Das ist die Zeit, die sie immer anzeigen wird. Doch was bedeutet sie? Was geschah um zehn Minuten nach sieben, daß es für Karen so wichtig war, daß sie eine wertvolle Uhr im Buchenwald vergrub?
Emilia säubert das Zifferblatt weiter mit welken Blättern, um das Glas ein wenig zum Glänzen zu bringen. Und erst jetzt, als sie merkt, daß ihr bei ihrer Aufgabe ein bißchen unerwartete Feuchtigkeit zu Hilfe kommt, fällt ihr auf, daß es heftiger schneit und der Waldboden allmählich von einer dünnen weißen Decke überzogen wird.
Sie steht auf. Sie schwankt zwischen zwei Möglichkeiten: die Uhr mitzunehmen und zusammen mit ihren wenigen anderen Besitztümern aufzuheben oder sie in die Erde zurückzulegen. Sie kann sich nicht entschließen, und es ist, als wolle sie der nun stärker fallende Schnee warnen, daß sie sich beeilen, die Uhr entweder zurücklegen oder mitnehmen müsse. Auf jeden Fall aber müßte sie sich auf dem Boller-Anwesen auf der anderen Seite des Zauns in Sicherheit bringen, ihr Pony nehmen und zurückreiten, bevor die Dunkelheit hereinbricht und sie im Schnee und schwächer werdenden Licht nicht mehr zurückfindet.
In diesen rasch vorbeieilenden Augenblicken der Unentschlossenheit hört sie ein Geräusch hinter sich. Zunächst dreht sie sich nicht um, weil es so schwach ist, fast überhaupt nicht da , so daß sie es zwar einerseits bemerkt, andererseits aber auch nicht, weil sie so mit der Uhr und deren Bedeutung beschäftigt ist, daß die Geräusche des Waldes keine Unmittelbarkeit für sie haben.
Es ist ein Flüstern.
Sie hat keine Schritte, kein Rascheln von Laub und kein Knacken von Zweigen gehört.
Emilia dreht sich um. Die Uhr hält sie an die Brust gedrückt. Was ihr wie Ticken vorkommt, ist ihr eigenes Herz.
Jemand flüstert ihren Namen. Emilia.
Doch sie ist allein mit den großen Bäumen, dem Schnee und dem zaudernden Licht. Nichts bewegt sich.
In einiger Entfernung hört sie den Grauschimmel wiehern. Doch sie bleibt noch einen Augenblick, versucht das Dunkel des Waldes mit Blicken zu durchdringen, hält die Uhr umklammert, die sie mitnehmen wird, ja, jetzt bestimmt, weil es etwas ist, worum sie sich kümmern, was sie festhalten kann. Es ist die Uhr ihrer Mutter, jedoch für sie bestimmt, weil sonst niemand wußte, daß sie hier …
Emilia.
Und dann bewegt sich etwas. Hinter einem der prächtigen Buchenstämme kriecht eine dünne Gestalt hervor. Sie läuft auf sie zu. Sie ist so klein und leicht, daß sie völlig geräuschlos, und ohne auf dem Boden Spuren zu hinterlassen, zu ihr zu kommen scheint. Es ist Marcus.
Emilia setzt Marcus auf das Pferd und wickelt ihn in ihren Umhang. Mit dem
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