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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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hört nicht hin. Er legt sich in sein kleines Bett und starrt zur Decke. »Emilia« , flüstert er wieder, »Emilia!«

DIE GEDANKEN VON MARCUS TILSEN, FÜNF JAHRE ALT, AM HEILIGABEND
    Magdalena hat gesagt wenn du gut bist kommen die Engel und füllen deine Schuhe mit goldenen Knöpfen wenn du schläfst aber wenn du wach bist und sie siehst dann fliegen sie sofort weg und dann ist am Morgen nichts da nur deine leeren Schuhe und was für ein Jammer ist das dann.
    Ich bin in den Wald gegangen um zu sehen ob die Engel dort warten und ihre Flügel unter den Bäumen trocknen und warten um zu mir zu fliegen ich versteckte mich zwischen den Bäumen und rief Engel bist du da aber nicht laut damit es mein Vater nicht hört.
    Mein Vater sagt immer Marcus deine Angewohnheit von zu Hause wegzulaufen und wir wissen nicht wohin oder wann ist sehr böse und eines Tages gehst du verloren und wir wissen nicht wie wir dich finden sollen und was soll dann aus dir werden.
    Er weiß nicht daß es im Wald Stimmen gibt sie sind überall in den Blättern und im Wind.
    Ich sagte wo sind die Engel mit ihren nassen Flügeln und die Stimmen sagten warte und verstecke dich und sei mucksmäuschenstill Marcus leg deine Arme um den Stamm einer Buche und beweg dich nicht und dann siehst du sie und ich sagte kommen sie in der Nacht und füllen meine Schuhe mit Goldknöpfen und die Stimmen sagten sie wissen es nicht.
    Der Schnee begann zu fallen einmal habe ich meinen Vater gefragt wo er aufbewahrt wird wenn er nicht fällt und er hat gesagt du siehst die Welt nicht richtig Marcus trotz meiner Mühe dir etwas beizubringen und das macht mich sehr zornig.
    Der Engel trug einen grauen Umhang und grub in der Erde und dann drehte er sich zu mir um und die Stimmen sagten das ist kein Engel das ist Emilia sie hat dir Boten von weit her geschickt um dich zu finden doch sie sind nie angekommen doch nun hat sie dich gefunden und du kannst zu ihr hinrennen und sie bringt dich dann fort von Magdalena der Hexe und du kommst nicht mehr zurück du kommst nie wieder zurück nie wieder zurück.
    Meine Katze Otto ist dortgeblieben.
    Ich bin im Bett in Emilias Zimmer und meine Schuhe stehen draußen vor der Tür für die Engel und Emilia sitzt neben mir und flüstert wo sind deine ganzen Wörter hingegangen Marcus sind sie in den Himmel gegangen direkt in den schwarzen Himmel über den Schneewolken oder hast du sie im Wald gelassen wie sollen wir sie nur wiederfinden und ich hebe die Arme und berühre ihre Haare und sie singt mir ein Lied über den Schnee vor.
    Draußen im Gang kommen die Engel an ich kann sie hören sie sind nicht so leise wie sie sein sollten sie lachen als sie meine Schuhe füllen und ihre Flügel streifen die Wände.

MAGDALENAS WEIHNACHTSGESCHENK
    Johann Tilsen und seine Söhne suchten bis Mitternacht in der Dunkelheit nach Marcus. Als die Suchmannschaft zum Haus zurückkehrte, schenkte Magdalena ihnen allen heißen Holunderblütenwein zum Aufwärmen ein und sagte: »Ihr werdet Marcus nicht finden, wenn er nicht gefunden werden will. Warum also macht ihr euch so sinnlos kaputt?«
    Johann nickte. Er hatte vorausgesehen, daß Marcus verschwinden würde. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen. Denn Marcus war unruhig wie der Wind und wurde von diesem wie Saatgut herumgetragen. Er hatte gewußt, daß er eines Tages überall, wo sich Marcus immer versteckte, nachschauen und ihn nicht finden würde. Und vielleicht fand man ihn ja auch überhaupt nicht mehr, denn das war es, was er zu wollen schien: sich aus jedermanns Reichweite zu begeben.
    Dennoch kündete Johann an, daß die Suche am nächsten Morgen, sobald es hell wurde, weitergehen würde, und zwar diesmal zu Pferde und nicht nur in den Wäldern, Obstgärten, am See und auf der Insel in dessen Mitte, sondern auch auf Boller. »Wir wissen ja«, sagte er, »daß Marcus irgendwie, auf unvorhersehbare Art, davon gehört haben könnte, daß Emilia auf Boller ist.«
    Sie legten sich schlafen. Trotz seiner Müdigkeit verspürte Johann Tilsen das heftige Verlangen, seine Frau zu lieben, bevor er sich vom Schlaf übermannen ließ.

    Am Heiligabend nun erhebt sich die Sonne flach über der Landschaft und entlockt dieser ein Strahlen, wie es alle seit langem nicht gesehen zu haben glauben. In dieser Helligkeit, sagt sich Johann Tilsen, kann nichts verborgen bleiben. Er stellt sich vor, wie sich die schwarzgekleideten Kirchgänger von dem strahlend weißen Hintergrund abheben und die Fasane aussehen, als

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