Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
bekommt eine große Auswahl Muster vorgelegt. Er streicht mit den Händen darüber. Er hält sie sich vors Gesicht und riecht daran. Und er stellt fest, daß Signor Ponti flink wie ein Magier ist: Er zaubert mehr hervorragende Mappen aus dem Kasten, als man darin vermutet hätte, und läßt sie mit einer graziösen Handbewegung aufschnappen. Und Christian merkt, daß ihm dies Freude bereitet, ähnlich einer neuen Vorstellung, für die die Aufführenden gut geprobt haben. Ja, als der Kasten schließlich leer ist und er die verschiedenen Papierarten geprüft hat, wird ihm bewußt, daß sein Kopf und Körper eine ganze halbe Stunde lang Frieden gefunden hatten.
Er läßt Wein für seine Gäste und Karten von Jütland kommen, die er vor Ponti und Francesca aufrollt. »Wälder!« verkündet er, wobei er merkt, als er mit der Hand über die Karte streicht, von welch grober Qualität das dänische Pergament ist, aber dennoch die leuchtenden Farben bewundert, die der Künstler verwendet hat. »Und viele davon gehören mir! Es sind königliche Ländereien, die der Adel nicht anrühren kann.«
Die Italiener schauen fasziniert auf die winzigen smaragdgrünen Bäume, mit denen der Kartograph fast das halbe Land bedeckt hat, und auf die große Anzahl Seen und Flüsse, die sich wie eine verhedderte Aquamarin-Halskette durch die vielen Morgen leuchtendgrünen Waldlands schlängeln.
»Geht nach Jütland!« meint der König. »Wie Ihr seht, gibt es in dieser Gegend viel Holz und Wasser. Ich gebe Euch einen Landvermesser mit. Sagt mir dann, wenn Ihr zurückkommt, ob das Carta Ponti Numero Due und Numero Uno aus dänischen Bäumen hergestellt werden kann. Ich bin nur an Papier dieser Qualität interessiert – an einem Papier, in das sich meine Kalligraphie vernarren kann. Wenn Ihr das fabrizieren könnt, gebe ich Euch die Konzession für Eure Mühle, und wir legen dann fest, wieviel vom Profit Euch und wieviel mir gehört.«
Signor Ponti strahlt. Er sieht das Ponti-Wasserzeichen schon auf dänischen Staatsdokumenten, Almanachen und Notenblättern, auf Handzetteln und Architektenzeichnungen, auf den Vorsatzblättern gelehrter Bücher, auf Liebesbriefen und Testamenten. Er gibt sich schon dem köstlichen Gedanken hin, das Wort »Ponti« sei ein Synonym für gutes Papier geworden, so daß die Dänen eines Tages sagen würden: »Reicht mir ein Blatt Ponti, Sir!« oder: »Der unglücklich Liebende zerknüllte das Blatt Ponti und warf es ins Feuer.«
Auch der König lächelt. Er hat jetzt einen klaren Kopf. Es ist geradeso, als habe er schon begonnen, auf den sauberen Blättern Papier eine Zukunft niederzuschreiben, in der es plötzlich und unerwartet kein Herzeleid und keine Armut mehr gibt.
KAMMERN DES TROSTES
Königinwitwe Sofie ist in ihrem Keller.
Wie immer hat sie die schwere Tür hinter sich verschlossen und geht nun mit nur einer Kerze langsam an den Weinfässern entlang, um zu sehen, ob sie sich noch erinnern kann, was in jedem einzelnen versteckt ist.
Geduldig hatte sie ihre Münzen sortiert: die goldenen Daler und Penningar, die silbernen Daler und Skillings. Dann hatte sie diese in kleinen Mengen in Schweinslederbeutel gesteckt, zugebunden und mit Wachs versiegelt. Danach hatte sie die Beutel für einen Tag und eine Nacht in Wasserbecken gelegt, um sicherzustellen, daß sie nicht undicht waren. Wenn ja, wurden sie wieder geöffnet und neu versiegelt. Daraufhin hatte sie einen Beutel nach dem anderen in den Fässern verstaut.
Und dann war der geniale Augenblick gekommen. Die Fässer wurden mit Wein gefüllt.
Königin Sofie wagte es, ihre Münzen in weichen Säcken im Wein liegen zu lassen, weil sie wußte, daß der Wert des Geldes erhalten bleiben würde, auch wenn die Häute im Laufe der Zeit verrotteten und die Münzen anliefen. Im übrigen konnte sie leicht feststellen, ob und in welchem Maße sich die Häute zersetzten oder winzige Partikel des kostbaren Metalls durchsickerten, indem sie etwas Wein abgoß und daran roch. Königin Sofie hatte eine so feine Nase, daß sie Untreue des verstorbenen Königs an einem winzigen Hauch erkennen konnte. Er hatte einen aromatischen Bart gehabt. Dessen Nähe hatte der Königin immer mehr Geheimnisse preisgegeben, als Frederik II . es sich hätte vorstellen können.
Jetzt stellt Königin Sofie ihre Kerze hin. Sie hat einen kleinen Becher mitgebracht und bückt sich nun zum ersten Faß, dreht am Hahn und läßt ein paar Tropfen Wein auslaufen. Dann taucht sie ihre Nase direkt
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