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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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ein Stück weiter eines jener kleinen Gasthäuser an der Straße liegt, die nie zu schließen scheinen und in denen sich die Männer in dieser bewegten Zeit treffen, um ihre Armut zu vergessen oder ihre Dämonen in Schach zu halten. Er rennt nun fast hin und betet, es möge zu dieser späten Stunde noch jemand dasein und ein Feuer und eine Holzbank geben, auf die er seinen Kopf legen kann.
    Es ist ein niedriges Haus aus Erde und Baumstämmen mit einem Strohdach. Als Peter Claire eintritt, riecht er Pfeifenrauch und Apfelbaumholz und sieht den Wirt in seiner Schürze im Gespräch mit einem anderen Mann. Zwischen den beiden steht ein Krug Wein auf dem Tisch.
    Sie drehen sich um. Sie haben weder eine Kutsche noch einen Wagen, noch ein Pferd gehört. Die Nacht hat den Gast aus dem Nichts herbeigezaubert, und die Trinker sehen bestürzt aus.
    Peter Claire entschuldigt sich wegen der späten Stunde, bittet um Ale und darum, sich »einen Augenblick oder auch zwei am Feuer ausruhen« zu dürfen, und der Wirt steht auf und stellt ihm einen Stuhl hin.
    Der andere Mann, der schon reichlich Wein getrunken hat, versucht ihn sogleich in ein Gespräch zu verwickeln. »Ihr habt es nicht gesehen, wie, Sir?« fragt er.
    Er ist schon älter und hat ein faltiges, geschwärztes Gesicht, das aussieht, als habe es Sandstürmen und Eislawinen getrotzt.
    »Was gesehen, mein Freund?« fragt Peter Claire.
    »Heute in Kopenhagen. Bei Gammeltorv. Die Hinrichtung.«
    Der Wirt, der das Ale einschenkt, blickt zum Tisch hinüber und sagt: »So eine wird es nicht wieder geben, das sagen alle!«
    Peter Claire hält seine kalten Hände über die Reste des Feuers. »Wer ist denn hingerichtet worden?« fragt er.
    »Ein junges Mädchen«, erwidert der Weintrinker. »Sie starb auch, jawohl, sie war dazu verurteilt worden, doch es war ein langes Sterben.« Er schüttelt den Kopf, trinkt noch einen Schluck Wein und wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. Der Wirt bringt Peter Claire seinen Krug Ale, und dieser setzt ihn sich sogleich an die Lippen. Er weiß nicht, wie weit er gelaufen ist, doch als es ihm jetzt allmählich wieder warm wird, verspürt er plötzlich einen heftigen Durst.
    »Wißt Ihr, wer Herr Bomholt ist?« fragt der Wirt.
    »Nein!« antwortet Peter Claire.
    »Einer der Henker des Königs.« Zu dem anderen Mann gewandt sagt er: »Erzähl du’s! Es ist deine Geschichte.«
    Der Fremde streicht sich mit der schmutzigen Hand übers Gesicht und blickt dann Peter Claire mit einem beunruhigenden Lächeln an. »Bomholt war früher gut mit der Axt«, sagt er. »Einer der Besten. Doch wie Ihr wißt, werden die Henker pro Kopf bezahlt: soviel fürs Hängen, soviel fürs Kopfabschlagen, soviel fürs Auspeitschen, soviel fürs Brechen …«
    »Fürs Brechen?«
    »Der Knochen. Wie beim Hähnchenessen, schnapp, schnapp! Eßt Ihr Hähnchen, Sir?«
    Peter Claire nickt. Er leert seinen Bierkrug.
    »Nun, Bomholt ist gierig, wißt Ihr. Möchte seinen Sack voller Skillings, wie jede andere arme lebende Seele heutzutage in Dänemark auch. Träumt von Geld und noch mehr Geld, und so übernimmt er sich und verletzt sich eine Sehne im Arm. Hatte den Morgen mit Auspeitschen von Huren verbracht. Es sollen acht gewesen sein. Achtmal Seuchenfleisch an einem Morgen! Deshalb tut ihm der Arm weh. Er ist aber gierig, sagte ich ja schon. Will seine Hinrichtung, nicht wahr? Will seine Börse für das Enthaupten, sein hübsches Enthaupten!«
    Das Lachen des Mannes geht in Husten über. Er spuckt in den Sägestaub. »Nun zu dem«, fährt er fort, »was ich gesehen habe. Ich stand in der ersten Reihe der Zuschauer. Das Mädchen wird gebracht. Sie soll wegen ihrer Lüsternheit sterben, hat es siebenmal mit ihrem Schwager getrieben! Legt den Kopf also auf den Block. Und alle warten, während der Priester noch ein Gebet spricht. Und dann tritt Bomholt mit der Axt vor. Er versucht, sie sehr hoch zu heben, um sie sauber runterzubringen, beim erstenmal. Aber er kann sie fast überhaupt nicht hochheben! Er läßt sie fallen, und sie schneidet ein, doch nicht tief. Also versucht er es noch einmal, bekommt die Axt aber auch diesmal nicht hoch genug, und so geht es weiter, Schlag für Schlag, Schnitt für Schnitt, fünf- oder sechsmal, aber das Mädchen ist immer noch nicht tot. Und dann, mein Freund? Wißt Ihr, was dann passiert ist?«
    Peter Claire schüttelt den Kopf.
    »Bomholt rennt weg. Er läßt die Axt fallen. Und das Mädchen schreit gottserbärmlich. Und die Zuschauer

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