Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
ins Gefäß und atmet das Bouquet des Weins ein, wobei sich ihre Nasenlöcher links und rechts aufblähen. Wein kann sich nicht verstellen. Entweder hat er einen Stich oder aber nicht, und das kann sie ebensogut beurteilen wie ein Burgunderkenner.
Sein Bouquet ist das des Waldes und Sommerobstes. Auch in ihm liegt der Duft der verlorenen Vergangenheit, als die Männer bei Staatsbanketten und religiösen Feiern voller Sehnsucht auf ihr goldenes Haar blickten. Und all diese erinnerten Düfte sind rein und von nichts anderem besudelt.
Die Königin schüttet den Wein weg und geht zum nächsten Faß, läßt etwas Wein auslaufen und riecht daran. Auf diese Art prüft sie fünf Fässer, und in keinem gibt es auch nur einen leisen Hinweis auf ein Umschlagen des Weins. Aus dem letzten Faß gießt sie sich den Becher bis zum Rand voll und trinkt ihn aus. Ihr Wagnis ist gelungen. Die Beutel liegen im nassen Dunkel und sind sicher und unbeschädigt.
Königin Sofie nimmt die Kerze wieder in die Hand.
Sie geht hinter die Fässer und holt eine Eisenstange von der Wand. Dann stellt sie die Kerze auf den geteerten, staubigen Boden zurück und beginnt nun, den Teer an einer Stelle sorgfältig wegzukratzen, als sei sie eine Bauersfrau mit einer Hacke und der Kellerboden ein Stück Land, wo kostbare Sämlinge wachsen.
Bei ihrer Arbeit hört sie ein Rascheln im Keller und hofft, daß es Mäuse und nicht Ratten sind, die sich hier für den Winter eingenistet haben. Doch an diesem Tag macht ihr nichts angst. Sie hat sich durch Wagemut und Findigkeit ihren künftigen Seelenfrieden gesichert, und die Erregung, die sie verspürt, als nach ein paar Minuten Hacken mit der Stange herrlicher Goldglanz zutage tritt, steht der ihrer einstigen Liebhaber, wenn sie ihr flachsblondes Haar berührten, in nichts nach.
Teer und Staub bedecken nicht nur die Goldbarren, sondern dienen auch als Mörtel, um sie zusammenzuhalten. Früher bestand der Boden aus Ziegelsteinen, jetzt aus Goldbarren. Als König Christian in Königin Sofies Gewölben nach dem Schatz suchte, von dem er wußte, daß er da war, stand er direkt darauf.
Die Königin gräbt einen Goldbarren aus, säubert ihn mit ein paar Lappen, verbirgt ihn unter ihren Röcken, flitzt mit ihm zu ihrer Schlafkammer hinauf und verschließt die Tür hinter sich. Dann legt sie sich mit dem Barren auf dem Magen ins Bett und streichelt ihn.
Dieses Streicheln ihres Golds ist für Königin Sofie so beruhigend, daß sie sogleich in einen Schlaf mit lebhaften Träumen fällt. Stimmen, die sie kennt, von denen sie aber nicht sagen kann, zu wem sie gehören, fragen sie, was sie mit ihrem Barren kaufen oder erlangen will, und sie erwidert, daß sie sich das Glück dafür kaufen möchte, jedoch dessen genaue Form und Gestalt nicht kenne. »Kann es sein«, fragen die alten Stimmen beharrlich, »daß dessen genaue Form und Gestalt der Barren selbst ist?«
Sie wacht auf, blickt auf ihren goldenen Stein und begreift – wie in Wahrheit schon seit geraumer Zeit –, daß es niemals wieder etwas geben wird, was ihr mehr Zufriedenheit bringt als das, was hier und jetzt schwer auf ihrem alternden Körper liegt. Die Zeiten sind vorbei, in denen sie Gold gegen etwas Wunderbareres, als es selbst ist, eintauschen konnte.
Zur gleichen Zeit sitzt Vibeke Kruse in ihrem Zimmer auf Boller am französischen Schreibpult, beißt sich wie ein kleines Kind auf die Lippen und müht sich mit Schönschriftübungen ab, die sich Ellen Marsvin für sie ausgedacht hat.
Sie hatte sich schon immer ihrer Schrift geschämt, besonders, daß man ihre U nicht von ihren N unterscheiden konnte und es ihr nicht gelang, ihre G und Y hübsch zu schreiben. Vor kurzem war sie nun von Ellen wegen dieser Schwäche gescholten worden, und diese hatte streng von ihr verlangt, etwas dagegen zu tun.
Daher schreibt sie nun Zeilen mit N, ineinander verschlungenen G und U, die sie an sich auftrennende Stricksachen erinnern. Es ist eine öde und schwierige Arbeit für sie, doch sie hält durch, weil jeden Augenblick Ellen Marsvin hereinkommen wird, um sich anzusehen, was sie zuwege gebracht hat.
Vibeke hat auch Schmerzen im Mund. Sie würde sich gern darüber beklagen, tut es aber nicht, ebensowenig wie sie sich über die Schönschriftübungen beklagt. Denn beides gehört zu Ellens großem Plan für sie. Und dieser Plan kann nur gelingen, wenn Stillschweigen darüber bewahrt wird.
Vibeke legt den Federkiel hin und tastet mit dem Zeigefinger vorsichtig ihr
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