Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
einem dieser eiskalten Morgen wird er ihn finden.
Eine einsame, gebeugte Gestalt in der weißen Landschaft, blickt Johann Tilsen auf sein Leben und entdeckt in ihm Zeichen, die er nicht deuten kann. Bis zu diesem Winter, bis zu Marcus’ Verschwinden, hatte er immer geglaubt, sein Schicksal in der Hand zu haben, weil er stolz von sich behauptete, den Menschen in die Herzen sehen zu können. Doch nun spürt er – ohne den Grund dafür benennen zu können –, daß er diese Fähigkeit verloren hat. Unter seinem eigenen Dach, in der dicken Luft des Salons und der erotischen Dunkelheit seines Schlafzimmers, hat sich etwas verändert oder verschoben, ein Etwas, das er nicht genau beschreiben kann, das aber trotzdem vorhanden ist.
Es hat etwas mit Magdalena zu tun. Johann Tilsen blickt seine Frau an – wenn er sie liebt und wenn sie schläft – und versucht zu erkennen, was sich verändert hat. Doch es entzieht sich ihm. Sie verhält sich nicht anders als sonst. Sie ist ihm gegenüber liebevoll und immer um sein Wohlergehen besorgt. Es ist nach wie vor leicht, sie zu erfreuen. Und im Bett macht sie auch weiterhin, worum er sie bittet, ganz gleich, was seine Phantasie heraufbeschwört.
Und doch ist sie verändert.
Wie ist es möglich, daß man eine Veränderung bemerkt, die in keiner bestimmten Sache liegt und nicht definiert werden kann?
»Magdalena«, flüstert er eines Nachts, als er, sein Glied noch in ihr, merkt, daß sie einschlafen will, »was verbirgst du vor mir?«
Sie rührt sich nicht. Nach einer Weile erwidert sie: »Du bist mein Mann, Johann. Du siehst alles, was ich bin.«
»Ich sehe , was du bist«, antwortet er, »doch ich weiß nicht, was du bist. Und das beginnt mich allmählich zu quälen.«
Am Bett flackert noch eine Kerze. Magdalena setzt sich auf, wodurch sie ihren Körper von Johanns trennt, und bläst sie aus.
Nun liegen sie im Dunkeln, und sie streckt die Hand aus und greift nach seiner. »Johann«, sagt sie, »wenn dich etwas quält, dann hängt das nicht mit mir zusammen. Deine Suche nach Marcus setzt dir zu.«
Johann schweigt. An dem, was Magdalena gesagt hat, ist etwas Wahres. Die Stunden, die er allein unter dem grauen Himmel verbracht hat, haben ihn sicher geschwächt, am Körper und am Geist. »Ja«, sagt er, »doch das ist es nicht. Etwas ist in diesem Haus geschehen. Ich spüre es.«
Sie hören den Schrei eines Nachtvogels. Magdalena antwortet nicht, so daß Johanns letzte Äußerung und dieser Schrei einen Augenblick lang in der Dunkelheit zu schweben scheinen, um dann plötzlich wie ein Echo zu ersterben.
»Magdalena …«
»Pst, mein Lieber«, sagt sie, »nichts ist geschehen! Schlaf den Schlaf der Gerechten!«
Als Johann am nächsten Morgen aufwacht, glaubt er zu wissen, wo er Marcus finden kann. Ein Traum hat es ihm offenbart. Und es war ja so offensichtlich. Er hatte den Platz die ganze Zeit vor Augen gehabt, aber nicht gesehen.
Er sagt Magdalena nichts davon. Gleich nachdem er seinen Kaffee getrunken hat, als sich die Knaben für den Unterricht vorbereiten und Magdalena den Küchenmägden ihre Anweisungen erteilt, verläßt er das Haus.
Er nimmt einen Eispickel mit, den er sich über die Schulter hängt. Nachdem er seinem Pferd Futter und Wasser gegeben hat, holt er aus dem Stall eine Decke, die Marcus’ kastanienbraunes Pony manchmal trägt, und befestigt sie am Sattel. Er reitet Richtung Osten, über die Erdbeerfelder hinweg zu den Sommerweiden, einer tiefen, weißen Sonne entgegen, die mühsam versucht, über die Skelette der Eichen und Buchen an der Boller-Grenze aufzusteigen.
Als er die erste Weide erreicht, steigt er ab, bindet das Pferd an und macht sich mit der Decke und dem Werkzeug auf den Weg.
Und nun steht er da und blickt auf den Wassertrog. Zart, wie eine ferne Glocke, hört er Marcus’ Stimme: »Meine Mutter kann mich von der Wolke sehen, wo sie liegt, und wenn es auf das Wasser im Pferdetrog regnet, dann ist das ihr Rufen nach mir eben an diesem kleinen Ort …« Und er hört sich noch schelten: »Ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll, Marcus. Ich bin verzweifelt …«
Voller Angst und Schrecken im Herzen kratzt Johann Tilsen den neuen Schnee von dem dicken Eis auf dem Trog.
Das Eis ist undurchsichtig. Es hat sich zu einem soliden Weiß verdichtet. Man kann nicht sehen, was darunter liegt.
Johann zittert vor Kälte. Er nimmt den Pickel in die Hand.
Doch dann hält er inne. Was wollte er eigentlich mit dem Pickel? Willkürlich auf
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