Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Zahnfleisch ab. Was der Finger dort findet – die Ursache der wunden Stelle, die sie fast zum Weinen bringt –, sind ein paar neue Zähne.
Sie sind aus poliertem Elfenbein. Sie liegen in ihrem Kiefer, wo ihre eigenen Zähne verfault und ausgefallen sind, und sind mit Silberdraht an den danebenliegenden Backenzähnen befestigt. Der Zahnbildner hat sich Vibekes Mundschmuck von Ellen teuer bezahlen lassen, und so will Fru Marsvin keine Klagen darüber hören, wie unangenehm er ist und welche Probleme er bei den Mahlzeiten bereitet. Ja, Ellen hat Vibeke sogar angefahren, daß die Unannehmlichkeit nur gut ist, wenn sie dazu führt, daß sie sich vor dem Essen fürchtet. Möge sie nicht essen! Möge sie endlich schlank werden! Denn erst, wenn sie sich in ihren teuren neuen Kleidern mit Grazie bewegen kann, ihre Schrift besser geworden ist und ihre Zähne beim Lächeln keine Lücken mehr aufzeigen, kann der Plan endlich ausgeführt werden.
Ellen Marsvin kommt in Vibekes Zimmer und schließt die Tür hinter sich.
Sie geht zum Schreibpult hinüber, stellt sich hinter Vibeke und blickt auf deren Werk, das noch immer von so hoffnungsloser Naivität ist, als lerne Vibeke das Alphabet zum erstenmal schreiben.
»Sieh doch!« sagt Ellen ungeduldig. »Die Köpfe deiner G sind alle verschieden groß, sollten aber doch einheitlich sein. Schreib noch eine Zeile!«
Vibeke taucht die Feder in die Tinte und fängt so schnell und gehorsam von vorn an, daß mehrere N in der Zeile darüber verwischt werden.
Ellen sieht auf Vibekes rechtem kleinen Finger schwarze Flecken. Und obwohl ihre Anstrengungen etwas Irritierendes an sich haben, empfindet Ellen Marsvin beim Anblick des tintenbefleckten Fingers Vibeke gegenüber doch eine Zärtlichkeit, der sie nur dadurch Ausdruck verleihen kann, daß sie ihr eine Hand freundlich aufs Haar legt. »Es wird schon, Vibeke!« sagt sie sanft. »Wenn es Frühling wird …«
»Das hoffe ich auch!« antwortet Vibeke, wobei sie in ihren G innehält und sich Ellen zuwendet.
»Wir brauchen einfach noch etwas Zeit. Das ist alles! Wie geht es heute mit deinen Zähnen?«
Vibeke möchte antworten, daß der Silberdraht so fest sitzt, daß sie befürchtet, er könne in die glänzende Oberfläche ihrer eigenen gesunden Zähne einschneiden, und daß ihr Kiefer an den Stellen, wo die Elfenbeinzähne liegen, rot und wund ist. Sie sagt jedoch nur, daß sie sich langsam an die neuen Skulpturen in ihrem Mund gewöhne und Nelkenöl den Schmerz lindere.
»Verlier nicht den Mut!« meint Ellen, als sich Vibeke wieder ans Schreiben macht. »Alles wird mit der Zeit gut, und wenn es gut ist, dann ist es gleich sehr gut.«
Ellen Marsvin, der die netten – fast poetischen – Windungen dieses letzten Satzes gefallen, blickt sich mit einem zufriedenen Lächeln in Vibekes Zimmer um. Es enthält innerhalb seiner vier Wände alle geheimen »Zutaten« ihres Plans. Und in diesem liegt die stille Erwartung einer sehr tröstlichen Zukunft.
JOHANN TILSENS ENTDECKUNG
Als die Januarkälte stärker wird und sich auf dem Brunnen eine Eisschicht bildet, setzt Johann Tilsen seine Suche nach Marcus fort.
Er reitet allein aus. Er wickelt sich einen Schal um Nase und Mund, um die eiskalte Luft durch das Tuch zu filtern, doch sein so gefangener Atem kondensiert zu Wasser, dieses wird zu Eis, und die Haut seines Gesichts fängt zu brennen an.
Er hat schreckliche Angst, Marcus’ Leichnam zu finden. Er gesteht sich ein, daß er in der Hoffnung sucht, nichts zu finden.
Er ist für den Schnee, der mehrere Zentimeter tief gefallen ist, fast dankbar, weil so der Leichnam gefroren und sogar noch ausreichend bedeckt sein würde, um bis zum Frühling verborgen zu bleiben. Dennoch gräbt Johann Tilsen an den Stellen, wo Schnee angeweht und aufgehäuft ist, mit einem Spaten und den Händen, wobei er die ganze Zeit betet, daß unter den Verwehungen nur die herabgefallenen Blätter und der Erdboden sind.
Bei seinem mühseligen Unterfangen versucht er sich immer wieder, wenn die Qual der Suche und der Schmerz der Kälte fast unerträglich werden, mit dem Gedanken zu trösten, Marcus habe irgendwie »die andere Welt« gefunden, von der er immer sprach, daß es diese irgendwo gibt – nicht nur in der wirren Phantasie des Kindes.
Doch Johann Tilsen ist ein vernünftiger Mann. Er weiß, daß es auf dieser Seite des Todes keine »andere Welt« gibt. Seine Vorstellungen von Marcus auf einer sonnenbeschienenen Ebene oder Prärie sind reine Illusion. An
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