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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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die Eisoberfläche einhacken? Der Trog ist tief, doch der kleine Körper wäre geschwommen. Johann streicht mit bloßen Händen übers Eis. Die Oberfläche ist vollkommen glatt, als sei es eine saubere, kalte Steinplatte. Obwohl seine Hände brennen, läßt er sie dort, als wolle er jemanden segnen. Er empfindet Scham.
    Er steigt wieder aufs Pferd. Er will zum Haus zurückkehren und zarteres Werkzeug besorgen – feine Meißel und Hämmer –, und mit diesen wird er dann Marcus’ Körper freilegen, ohne ihm Schaden zuzufügen. Er wird ihn liebevoll herausholen und in die Decke hüllen, die noch nach dem kastanienbraunen Pony riecht, und ihn nach Hause tragen.

    Die Sommerweiden sind weit vom Haus entfernt, so daß Johann Tilsens Füße und Hände ganz taub sind, als er zurückkommt. Er beschließt daher, sich erst ein paar Minuten am Feuer aufzuwärmen, bevor er sich wieder auf den Weg macht.
    Er geht ins Wohnzimmer und setzt sich.
    Schaden.
    Das Wort verspottet ihn. Seine eigenen Heucheleien erfüllen ihn mit Abscheu. Marcus Tilsen war schon vor langer Zeit Schaden zugefügt worden – durch die Gleichgültigkeit seines eigenen Vaters. Nichts und niemandem sonst ist daran die Schuld zu geben.
    Johann blickt ins Feuer. Als er gerade wieder aufstehen und nach den Meißeln suchen will, hört er ein Geräusch wie Weinen. Er hebt den Kopf. Es kommt aus dem Raum über ihm, aus dem Zimmer, in dem er und Magdalena schlafen. Er weiß jedoch, daß es nicht Magdalena ist. So weint Magdalena nicht.
    Johann Tilsen steht leise auf und geht ebenso leise die Treppe hinauf. Später wird er sich noch oft fragen, warum er so leise gegangen ist, wie ein Dieb auf Zehenspitzen, und er weiß dann keine andere Antwort darauf als die, daß er wußte, daß er es tun mußte.
    Als er sich seinem Schlafzimmer nähert, stellt er fest, daß das Weinen sehr laut ist, ein hemmungsloses, fast unkontrolliertes Jammern. »Magdalena …«, stöhnt die Stimme. »Magdalena …«
    Es ist Ingmar.
    Johann Tilsen öffnet die Tür und geht ins Zimmer. Magdalena liegt ausgestreckt auf dem Bett. Ihr weißer Unterrock ist bis zur Taille hochgeschoben und ihr Mieder steht offen. Ingmar Tilsen liegt nackt bis aufs Hemd zwischen ihren Beinen und weint in seinem Delirium, an sie geklammert wie ein Ertrinkender, den dunklen Kopf auf ihren milchigen Brüsten.

    Das Licht schwindet schon am Himmel, als Johann zum Wassertrog zurückkehrt, und der Vogel, den er auch in der Nacht gehört hat, ruft nun wieder, diesmal hartnäckiger, als warte er ungeduldig auf die Dunkelheit.
    Die Luft ist so kalt, daß Johann jeder Atemzug Schmerzen bereitet. Doch er arbeitet ununterbrochen, scheint die kalte Dämmerung fast zu vergessen, nur auf die Aufgabe konzentriert, das Eis wegzuhacken, Stück für Stück, wie ein Bildhauer, der weiß, daß der Marmorblock die menschliche Gestalt verbirgt, die er sich vorgestellt hat.
    Die Eisscherben springen weg und fliegen durch die Luft. Das Geräusch der Meißel schallt durch die Stille des Nachmittags. Das Pferd niest und stampft.
    Stück für Stück schlägt Johann Tilsen das Rechteck aus Eis im Trog ab. Er findet darin Eicheln und Blätter. Er erinnert sich noch gut, wie Marcus auf diese schwimmenden Dinge blickte, sie mit einem Stock anstieß, ihnen mehr Aufmerksamkeit schenkte als Johanns Worten: »Das Wasser ist nicht für dich, Marcus, es ist für die Pferde. Komm weg …«
    Auch als es schon dunkel und das Eis nicht mehr tiefer als eine Männerhand breit ist, arbeitet Johann Tilsen weiter. Erst als sein Meißel auf den Steinboden des Trogs schlägt, hört er auf, sinkt auf die Knie und ruht sich aus.

DER GEFALLENE ENGEL
    In seiner neuen, seltsam optimistischen Stimmung, die offenbar auf das Eintreffen des Papierfabrikanten aus Bologna zurückgeht, hat König Christian Peter Claire mit Signor Ponti und seiner Tochter nach Kopenhagen geschickt, um ihnen dort die Gebäude zu zeigen, auf die er am stolzesten ist: die Børsen mit ihrem gedrehten Turm, der die Locke des Königs zum Vorbild hatte und Stände für vierzig Händler besitzt, die alte Schmiede, aus der die Holmens Kirke für die Matrosen und Werftarbeiter Bremerholms wurde, und seinen geliebten Palast Rosenborg, die Blume seiner Liebe zu Kirsten.
    Die Symmetrie dieser Gebäude, ihr untadeliges Mauerwerk und die Zartheit ihrer Türme beeindrucken Francesco Ponti tief. Dem Italiener fällt jedoch, wie er sagt, eine contraddizione zwischen der ungepflegten und unglücklichen

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