Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
eine Besorgung eingefallen, die er zu erledigen vergessen hatte. Er weiß, daß er sich ihr gegenüber in jeder Hinsicht feige verhält. Er wünschte, die Zeit würde vergehen und sie wieder weg sein.
Er erklärt sich dann doch zu dem Ritt bereit.
Er tut es, weil ihm der Gedanke gefällt, durch die Wälder von Frederiksborg zu galoppieren – bis an seine Grenzen und darüber hinaus –, als renne er vor seinem Leben weg. Wenn er schon nicht in die Neue Welt fliehen kann, wie er es sich in jener Nacht, als er die Geschichte von der Hinrichtung hörte, erträumt hatte, dann kann er wenigstens reiten, bis er erschöpft ist, und darin eine Art Vergessen finden.
Er wählt starke Pferde aus, wobei er sich keine Gedanken darüber macht, ob Francesca mit ihrem feurigen Roß zurechtkommen wird, da er sie in seiner Phantasie schon weit hinter sich gelassen hat und allein in seinem Waldstück ist. Und er reitet weiter, bis er weiß, daß er sich nicht mehr auskennt. Und in dem Gefühl, den Weg verloren zu haben, liegt eine Art Verzückung.
Francesca trägt einen Reitumhang und einen Hut aus schwarzem Samt.
Unter dem dunklen Himmel sieht ihr Gesicht blaß aus, ihre Augen wirken groß und ihre Lippen dunkel. Sie bittet den Stallburschen, ihren Umhang hinter ihr auszubreiten, und Peter Claire sieht, mit welcher Sorgfalt dieser seiner Aufgabe nachkommt, als hätten seine Hände noch nie zuvor Samt berührt und als hätte er noch nie ein Pferd für eine so schöne Frau wie die Gräfin O’Fingal gesattelt.
In dieser Schönheit – die sie durch das Zurechtziehen ihres Umhangs und dadurch, daß sie groß, aufrecht und unerschrocken auf dem Pferd sitzt, noch herausstellt – sieht Peter Claire einen beabsichtigten Vorwurf ihm gegenüber. Sie fragt ihn damit, wie er nur so kleinlich sein kann, ihr zu widerstehen. Es erinnert ihn daran, daß Verzückung sehr oft über Skrupel triumphiert und dies so sein wird, solange die Welt besteht.
Sie reiten schnell, ganz so, wie es sich Peter Claire vorgestellt hatte, nur daß Francesca Schritt mit ihm hält. Als er zu ihr hinüberblickt, sieht er, daß sie fast lacht, und als er sich jetzt an ihr Lachen erinnert, ist es so wirkungsvoll wie Musik.
So zügelt er als erster sein Pferd, um langsamer, zuerst im Handgalopp und dann im Trab, weiterzureiten. Francesca galoppiert auf eine vor ihnen liegende Lichtung zu. Sie bleibt nicht stehen, reitet nicht einmal langsamer, sondern ruft ihm nur zu, er solle nachkommen. Es ist offensichtlich, daß sie von dem schnellen Reiten begeistert ist und das waghalsige Tempo beibehalten will.
So wird aus dem Galopp nun eine Art Jagd, bei der Peter Claire seine Peitsche gebrauchen muß. Er hat den Eindruck, Francesca sei in ihrem sich im Wind bauschenden Umhang entschlossen, ihm davonzureiten. Einen Augenblick lang, als sich der Weg nach Norden wendet, überlegt er, ob er sie reiten lassen und an dieser Stelle verweilen soll, bis sie zurückkommt. Doch sein Stolz zwingt ihn, ihr zu folgen, Stolz und eine Art aufsteigender Begeisterung sowie eine plötzliche, unstillbare Neugier, als führe ihn die Gräfin zu einem Ziel, das nur sie finden kann.
Sein Pferd beginnt zu schwitzen, doch Peter Claire weiß, daß es nicht strauchelt, wenn es ermüdet. Der König nimmt diese Araber für seine Turniere. Es sind Abkömmlinge jener, mit denen er einst mit Bror Brorson durch die Wälder ritt. Sie sind nervös und stark wie Tänzer, mit kraftvollen Herzen und zarten Füßen. Sie lassen sich reiten, bis sie umfallen.
Die Wälder, in denen Christian so gern seiner wilden Eberjagd nachgeht, dehnen sich um Frederiksborg herum meilenweit aus. Die Wege führen immer weiter. Man kann den ganzen Tag lang reiten, ohne an ihr Ende zu kommen. Daher ist Peter Claire klar, daß es an diesem Wintermorgen keine – noch keine – Begnadigung geben wird. Jetzt zählt nur der Augenblick, das Spiel mit der Zeit, die nun eine wahnsinnige, traumähnliche Beschleunigung erfährt: die Sporen, die Peitsche, das jagende Blut, die Verfolgung.
Dann endlich, als er um eine große Kurve kommt, sieht er, daß die Gräfin ihr Pferd gezügelt hat und abgestiegen ist und nun ihren Umhang abnimmt und auf den Boden legt. Triumphierend steht sie da und wartet auf ihn.
Er beugt sich über den Hals seines Pferdes und atmet tief ein. Und wie es Francesca wohl vorausgesehen hat, kann er die Augen nicht von ihr wenden. Sie zieht eine Nadel aus ihrem Haar, und es fällt lose herunter. So hatte sie es
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