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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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auf Cloyne getragen, als sie hinter Giuliettas Reifen den Strand entlanggerannt waren.
    Lachend sagt sie: »Habe ich dir schon erzählt, daß ich einen Verehrer habe? Er heißt Sir Lawrence de Vere. Und habe ich dir schon erzählt, daß er sehr reich ist und ich daran denke, ihn zu heiraten?«
    Vielleicht ist es das Lachen oder aber die Erwähnung eines anderen Mannes, jedenfalls weiß Peter Claire in diesem Augenblick, daß er den Kampf, Francesca zu widerstehen, verloren hat. Er wird jetzt zu seiner Geliebten gehen, und sie wird wieder seine Geliebte sein, und sein Verlangen nach ihr wird alles und jeden sonst aus seinen Gedanken verdrängen.
    Als er sie küßt, weiß er, daß der Kuß eine Art Unterwerfung ist. Peter Claire unterwirft sich nicht nur dem Willen Francescas, die ihm in der Jagd überlegen ist, sondern auch der Vergangenheit. Es ist, als habe es die Zeit zwischen seiner Abreise von Cloyne und diesem Augenblick in seinem zweiten dänischen Winter nicht gegeben oder aber, wenn doch, nichts Wichtiges enthalten.

    Als sie am frühen Nachmittag zurückgekehrt sind, ihre Pferde den Stallburschen übergeben und sich höflich-förmlich voneinander verabschiedet haben, geht Peter Claire in sein Zimmer, deckt das Feuer mit Kohlenstaub ab und legt sich angekleidet aufs Bett.
    Er schließt die Augen und schläft in wenigen Minuten ein, wird aber gleich wieder von einem Klopfen an der Tür geweckt.
    Er kann sich kaum rühren.
    Er ruft dem Besucher zu, er solle eintreten. Ein schwarzgekleideter Diener kommt herein, reicht ihm einen Brief und zieht sich wieder zurück.
    Peter Claire sieht erstaunt auf den Brief. Für einen Augenblick bleibt ihm das Herz stehen, weil er sich fragt, ob er von Emilia Tilsen ist, doch dann sieht er, daß die Schrift von einer Kultiviertheit ist, die ihre sicher nicht besitzt, und auf dem Brief ein kunstvolles Siegel ist, das in seiner Größe kaum dem des Königs nachsteht.
    Er ist so müde, daß er es fast nicht schafft, die Lampe anzuzünden. Wie noch nie zuvor in seinem Leben sehnt er sich nach einem tiefen, traumlosen Schlaf. Er ist schon nahe daran, den Brief beiseite zu legen und später zu lesen, wenn er wieder einen klaren Kopf hat und seit den Ereignissen am Morgen etwas Zeit vergangen ist.
    Doch dann findet er die Zunderbüchse und Anzündkerze und hält sie an den Docht. Briefe sind wie ein Feueralarm. Der Verstand weiß, daß gehandelt werden muß …

    Lieber Mr. Claire [liest er],
was für eine Art Mann seid Ihr?
    Wessen Briefe beantwortet Ihr überhaupt, wenn Ihr eine so bedeutende Mitteilung von der Gemahlin des Königs mißachtet?
    Laßt mich also noch einmal daran erinnern, wie Ihr Euch und Eure Ziele in Gefahr bringt, wenn Ihr mir nicht unverzüglich antwortet und sagt, daß Ihr den Auftrag, den ich Euch erteilt habe, ausführen werdet. Ich will Euch alles noch einmal erklären.
    Eure Briefe an Emilia Tilsen, meine Frau, wird sie nie erhalten. Auch wenn Ihr ihr jeden einzelnen Tag schreibt, werden Eure Nachrichten abgefangen, ebenso wie alle Eure früheren, so charmant und leidenschaftlich sie auch sind, abgefangen worden sind und nun in einer Eisenkiste vermodern, nicht das Tageslicht sehen und kein Gehör finden. Emilia wird nie davon erfahren, es sei denn, sie findet sie eines Tages, wenn ich tot bin und sie eine alte Schachtel ist, so daß sie dann erkennen muß, wie ihr Leben hätte sein können, wenn Ihr Euch nicht als so falsch und voller Stolz erwiesen hättet …

DER ABGESANDTE DES KÖNIGS
    Der Lutheranerpfarrer Rotte Møller steht am Fenster.
    Sein kleines Haus liegt auf einem Hügel an einer schmalen, steilen Straße, die er morgens, wenn er bei seinem Frühstück, bestehend aus einer Schüssel Brot mit Milch vom Mutterschaf, sitzt und diese allmählich aus der Dunkelheit auftaucht, nicht aus den Augen läßt.
    Dieser Blick auf die Straße ist ein so ritueller Bestandteil von Rotte Møllers Tag geworden, daß er oft über Minuten hinweg vergißt, was er eigentlich zu sehen hofft. Seine strahlenden, lebhaften Augen betrachten das, was schon da ist: die spärlichen, vom Frost versteinerten Bäume, die Furchen im Schnee und Eis von den Wagen und Karren, einen einsamen Vogel, der in der Stille kreist. Diese Dinge treten in sein Bewußtsein und bleiben dort so, wie sie sind, ohne daß etwas dazukommt.
    Es gab einmal eine Zeit, da sah Møller immer wieder einen Mann in der Landschaft, der in einem Brokatumhang und Stiefeln aus spanischem Leder ins Dorf des

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