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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Isfoss geritten kam. Doch nun kann er sich nicht einmal mehr daran erinnern, sich diese Person jemals vorgestellt zu haben. Er beobachtet die Straße und die Bäume und den Januarhimmel, und das ist alles. Seine Gedanken wandern woandershin – zu einer belanglosen Aufgabe, die seine Aufmerksamkeit verlangt, oder den Worten einer halbfertigen Predigt. Der Mann in den Lederstiefeln ist verblaßt, verschwunden.
    Und so ist Rotte Møller erstaunt – ja fast entgeistert –, als er genau so eine Person, rotgekleidet und auf dem Kopf einen großen Federhut, auf einem kastanienbraunen Pferd heranreiten sieht.
    Møller tritt näher ans Fenster. Er wischt die von seinem Atem beschlagene Scheibe ab, und alle seine früheren Hoffnungen für die Leute vom Isfoss tauchen wieder in seinem Kopf auf: daß der König mit allem, was für das nochmalige Öffnen der Silbermine nötig ist, zurückkommt und das Dorf zu neuem Leben erwacht, daß um Mitternacht gesungen und Schweine auf dem Feuer gebraten werden …
    Hinter dem Mann mit dem großen Hut tauchen zwei Wagen auf. Die Pferde mühen sich auf dem vereisten Hügel ab und rutschen aus, die Wagen schlingern. Doch sie kommen voran. Und Møller, der neuerdings eine Diät aus Möhren, Rüben und Zwiebeln macht, die nur manchmal mit Kaninchenfleisch oder einer gebratenen Misteldrossel angereichert ist, stellt sich vor, daß die Wagen bis zum Rand voll sind mit Räucherschinken und lebenden Gänsen, dicken, in Eis gepackten Butterquadern, portugiesischen Zitronen, getrockneten Flundern, Gläsern mit Kakao und Zimt sowie Säcken mit Nüssen und Getreide.
    Møller zieht seinen schwarzen Mantel und seine abgewetzten schwarzen Schuhe an und geht auf die Straße hinaus. Er hebt die Arme zu einem freudigen Gruß, und der Mann auf dem Pferd zieht den Hut, um diesen zu erwidern.
    »Willkommen«, sagt Møller. »Willkommen, Sir!«
    Der Mann hält sich zwar gerade, taumelt aber, als er vom Pferd steigt, und fällt fast auf die Knie. Er sagt, es sei eine lange Reise gewesen, und manchmal sei es ihm so vorgekommen, als würde sie nie enden. Und Møller antwortet, daß es ihnen, den Dorfbewohnern vom Isfoss , auch so vorgekommen wäre, als würde das Warten nie aufhören.
    Der Mann streicht sich über den Bart, um ein paar Eiskristalle daraus zu entfernen, und sagt: »Das Herz des Königs ist so groß wie sein Königreich. Bloß seine Geldbörse ist klein.«

    Die Wagen werden in der Dorfmitte abgestellt.
    Die Bewohner kommen einer nach dem anderen heraus – Männer, Frauen und Kinder –, schauen und spekulieren über den Inhalt. Sie stellen sich nicht nur einen Lebensmittelvorrat vor, der für den ganzen Winter reicht und dem Hunger, der sie selbst in ihren Träumen noch packt, ein Ende bereitet, sondern zaubern aus den Wagen auch all das hervor, wonach sie sich immer gesehnt haben: Leinenballen und Felldecken, Zinnplatten und grüne Glaskrüge, Fässer mit Wein vom Rhein und aus dem spanischen Alicante, Tintenfässer, Steinschloßpistolen, Mercator-Atlanten, Tabaksbeutel, Lauten, Spitzendeckchen, Bälle und Kegel, Köcher voller Pfeile, Schlittschuhe, Affen, die auf dem Ende einer Kette tanzen …
    Doch selten nur bekommen Menschen das, wonach sie sich sehnen. So gibt es natürlich keine grünen Glaskrüge, keinen Wein, keine Spitze, keine herumtollenden Affen. In Wirklichkeit steht der Abgesandte des Königs gerade an Rotte Møllers Feuer und erklärt diesem, wieviel von all dem, was der König ins Numedal schicken ließ, verlorengegangen ist.
    »Es ist mir peinlich, Euch das zu sagen«, meint der Abgesandte, ein Herr Gade, »doch als wir unsere Reise antraten, hatten wir viel mehr geladen, als Eure Leute jetzt in den Wagen vorfinden.«
    »Warum?« fragt Møller.
    »Wir hatten über hundert lebende Hühnchen in Käfigen aus Korbmaterial in den Wagen. Eines Nachts schlich sich jedoch ein Fuchs herein und tötete dreißig von ihnen. Er fraß nur die Köpfe und Schlünde, weil das alles war, was sich das Biest durch das Flechtwerk ins Maul ziehen konnte. Wir packten die Körper in Schnee, mußten sie dann aber wegwerfen, weil sie trotz der Kälte zu stinken begannen.«
    »Diese Verschwendung …«, meint Møller traurig.
    »Und dann mußten wir, weil die Landüberquerungen so hart waren und die Reise viel länger dauerte, als wir es uns vorgestellt hatten, ein paar der für Euch bestimmten Daler und Skillings dazu verwenden, Hafer für die Pferde zu kaufen und von Schmieden die Hufe reparieren und

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