Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
wo ist Magdalena?«
»In der Dachkammer. Manchmal muß sie Papa dort einsperren.«
Emilia sagt nichts dazu. Sie bringt Marcus aus der Kälte ins Wohnzimmer, wo sie sich alle ans Feuer setzen. Marcus blickt seine Brüder schweigend an und diese ihn. Emilia bittet eines der Mädchen, heißen Tee zu bringen, dann wärmt sie Marcus’ Hände an den Porzellantassen.
Nach einer Weile taucht Wilhelm auf. Als er Emilia und Marcus sieht, flucht er leise vor sich hin und rennt wieder die Treppe hinauf.
Als Johann Tilsen zurückkommt und sieht, daß Marcus lebt und im Wohnzimmer am Feuer sitzt, nimmt er seinen jüngsten Sohn in die Arme und fängt zu weinen an. Er hört nicht mehr auf damit, und schließlich können Boris und Matti es nicht länger ertragen und rennen aus dem Zimmer. Emilia geht langsam zu ihrem Vater hinüber und legt ihm freundlich eine Hand auf die Schulter.
Emilia liegt nun in ihrem alten Bett in ihrem alten Zimmer und hört das altvertraute Heulen des Winds.
Neben ihrem Bett steht die Uhr, die sie im Wald gefunden hat und die um zehn Minuten nach sieben stehengeblieben ist.
Sie weiß nicht, warum Magdalena in der Dachkammer eingeschlossen war.
Sie weiß nicht, warum Ingmar nach Kopenhagen geschickt worden ist.
Sie kann nicht voraussehen, in welche Welt Marcus jetzt eintreten wird.
Sie weiß nur, daß die Zeit selbst eine Schleife geflogen ist und sie an ebenden Platz zurückgeführt hat, von dem sie glaubte, ihn für immer verlassen zu haben. Die Zeit hat hier angehalten und läßt sie nicht mehr weg. Kirsten wird nicht in ihrer Kutsche vorbeikommen und sie bitten, nach Boller zurückzukehren. Emilias dumme Träume von dem englischen Musiker gehören alle der Vergangenheit an. Sie wird im Haus ihrer Kindheit alt werden, ohne ihre Mutter und ohne die Liebe ihres Vaters. Sie wird hier sterben, und einer ihrer Brüder wird sie im Schatten der Kirche begraben, und die Erdbeerpflanzen, die jedes Jahr weiterkriechen und sich ausdehnen und das Land verschlingen, sogar bis zur Kirchentür, werden eines Tages alles bedecken, was von ihr bleiben wird, einschließlich ihres Namens: Emilia.
DAS MESSEN DES EISES
Wenn in Christians Kindheit im tiefsten Winter der See von Frederiksborg zufror, schickte König Frederik immer den Tennispunktezähler aufs Eis, um dessen Tiefe zu messen. Dieser bohrte dann an fünf verschiedenen Stellen Löcher ins Eis, und Christian kann sich noch erinnern, wie er zuschaute, wenn der Mann den Maßstab in diese Löcher steckte, ihn wieder herauszog und blinzelnd darauf schaute, um festzustellen, wo das Eis aufhörte und das Wasser begann.
Das Eisvermessen hatte etwas Formelles an sich, was bei dem Knaben Christian immer eine starke Faszination und Aufregung hervorrief, als vermesse der Punktezähler die Zeit selbst und würde dann verkünden, wieviel noch verblieb und an welchem Tag er König werden würde.
Und wenn das Eis für fest genug erklärt wurde, begann das Schlittschuhlaufen. Alle, die im königlichen Haushalt arbeiteten, durften teilnehmen. Man konnte dann sehen, wie die Stallburschen Arm in Arm mit den Küchenmädchen übers Eis tanzten, die Fechtmeister blendende Drehungen und Sprünge vollführten, Königin Sofies goldene Zöpfe hinter ihr herwehten, Babys auf kleinen Schlitten gezogen wurden und Hunde versuchten, den Schlittschuhläufern zu folgen, und in einem jaulenden Durcheinander übers Eis rutschten und sich kugelten.
Einige Winter waren so mild, daß der See überhaupt nicht zufror und alle Schlittschuhe bleiben mußten, wo sie waren, in Schubkästen und Schränken, mit ungeöltem Leder und unpolierten Kufen. Dann waren die Leute von Frederiksborg überzeugt: »Ein Winter ohne Schlittschuhlaufen ist kein richtiger Winter. Ein Winter ohne Schlittschuhlaufen macht phlegmatisch und läßt es zu früh Frühling werden.«
Und nun beobachtet der König von seinem Fenster aus, wie der Tennispunktezähler an diesem Wintermorgen im Februar 1630 aufs Eis hinausgeht, das sich seit einer Woche langsam gebildet hat, und die Löcher für seinen Maßstab zu bohren beginnt. Es ist ein herrlicher Tag, die Bäume sind dunkel und glitzrig, als die Sonne den Nachtfrost taut, und der Himmel ist von einem weichen, unschuldigen Blau. Es ist ein Tag, an dem alles so deutlich zu sehen ist, als sei die Welt neu erschaffen worden. Und der strahlende Glanz auf dem stillen, zugefrorenen See erweckt in König Christian die Sehnsucht, dort draußen zu sein, sich auf dem makellosen
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