Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
führt. Nach einer Weile bekommen seine Bilder eine unerwartete Schönheit, eine Libelle erscheint riesengroß und nah, und die Welt, auf die sie zufliegt, ist viel kleiner und weiter weg, wodurch das Bild (so unbeabsichtigt dies auch ist) einen Eindruck von der Luft, der Bewegung und dem Raum vermittelt.
Marcus spricht bei seiner Arbeit. Er erzählt Emilia, daß er nachts hören kann, wie ihm die Wände zuflüstern, und daß er weiß, daß es die Sprache der Insekten ist und ein Knabe sie versteht, wenn er nur lange genug zuhört. Und wenn er sie versteht, »kommen die Insekten zu ihm und gehorchen ihm«.
»Wenn sie ›ihm gehorchen‹«, fragt Emilia, »welche Befehle erteilt er ihnen dann?«
»Sei gut! Das ist ein Befehl. Weck Lady Kirsten nicht auf! ein anderer. Und: Träum nicht!«
»›Träum nicht?‹ Wovon träumen die Insekten denn, Marcus?«
»Von einer Ebene, sie träumen von der Ebene.«
»Welcher Ebene?«
»Von meiner Ebene, die heißt Jenseits der Verzweiflung, wo die Büffel sind.«
Marcus’ Leben wird jetzt vom Unterricht, dem Zeichnen und den Stimmen, die er von der Wand hört, bestimmt. Er weint seiner Katze nicht mehr nach. Wenn er nachts aufwacht, spricht er mit den Insekten, bis er von deren Antwortgeflüster wieder in den Schlaf gelullt wird. Er träumt, er sei ein purpurrotes Blatt oder die Knospe einer Blüte. Die Bilder sind für ihn wirklicher als das, was er vor dem Fenster sieht, und er glaubt allmählich, er werde eines Tages in diese Welt der Insekten »hineingehen« und dort leben, so klein wie diese Tiere sein und unter einem Pilz Schutz vor dem Regen suchen.
Wenn er mit Kirsten oder Ellen und Vibeke zusammen ist, verfällt er wieder in sein übliches Schweigen, so daß alle drei Frauen darüber klagen, daß er weiterhin so merkwürdig ist, und nicht mehr versuchen, mit ihm zu sprechen. Sie sind mit ihm fast genauso streng wie einst Magdalena und fragen sich, wie lange sie ihn noch auf Boller ertragen können. Ihr gemeinsamer Widerwille gegen Marcus’ unmögliche Art führt im Laufe der Monate sogar zu einem Nachlassen der früheren Feindseligkeit zwischen Kirsten und ihrer Mutter. Vibeke sagt einmal, während sie Lockenpapiere in ihren Haaren befestigt und wieder herausnimmt: »Ich verstehe nicht, warum ihr beide so feige seid. Wir sind nicht für Marcus Tilsen verantwortlich. Er sollte unverzüglich zu seinem Vater zurückgebracht werden.«
Kirsten weint. Sie blickt im Spiegel auf ihr Gesicht, das weiß und fett und gar nicht mehr schön ist. Sie weint stärker. Sie bürstet ihr Haar so heftig, daß sie mit der Bürste dicke Büschel ausreißt. Auf die eine oder andere Art ist das Leben doch immer eine Qual. Der Kern der Wut auf Emilia, die sie im Herzen trägt, beginnt anzuschwellen und sich zu verhärten.
Eines Februarmorgens zerbirst er dann. Das äußert sich auf eine Art, die selbst Kirsten nicht erwartet hätte.
Kirsten hat in ihrem Zimmer die Vorhänge zugezogen, um die bittere Kälte draußen zu halten. Sie bringt ihre Schlafkammer wieder in den Zustand der Abschottung, in dem es nur das von dem Feuer und den gelben Kerzen ausgehende Licht gibt. In diesen flackernden Schatten legt sie sich nackt ins Bett, um über die Trümmer ihres Lebens nachzudenken, in dem es keinen Spaß und keine Aufregung, keine Wildheit und keine Liebe mehr gibt.
Sie findet ihren magischen Federkiel und beginnt sich gerade zu trösten, indem sie damit ihre Lippen und Brustwarzen streichelt, als es klopft.
Im Geiste sieht sie ihren geliebten Grafen Otto Ludwig ins Zimmer treten, der sich fluchend und mit der Peitsche knallend die Kniehose aufknöpft.
Es ist jedoch Emilia, die hereinkommt, und sie sanft fragt, ob sie etwas benötigt.
Kirsten setzt sich im Bett auf. Sie hat feuchte Lippen, ihre Brustwarzen sehen im Kerzenschein steif und rosig aus, und sie wird gleich wieder von einer eiskalten Wut erfaßt. »Und wenn ich nun nichts brauche«, sagt sie, »wohin gehst du und was machst du dann heute nachmittag?«
»Also …«, beginnt Emilia.
»Du brauchst es mir nicht zu sagen«, meint Kirsten, »weil ich es weiß! Du gehst zu dem schrecklichen Insektenzimmer, um mit Marcus zusammenzusein!«
»Ja«, erwidert Emilia. »Aber nur, wenn Ihr nichts benötigt …«
»Wir suchen einen Lehrer für ihn! Und du bleibst dann wieder bei mir und bist da, wenn ich dich brauche!«
Emilia schweigt. Sie trägt das graue Kleid, das ihr früher so gut gefiel, und zieht sich einen grauen Schal um
Weitere Kostenlose Bücher