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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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Hände, die sich geschmeidig wanden und schlängelten wie bei einem Akrobaten oder Tänzer. Sie blickte Kirsten ruhig und flehend an und erwiderte: »Ich unterrichte Marcus früh am Morgen, bevor Ihr aufwacht, oder an den langen Nachmittagen, wenn Ihr ruht.«
    »Das ist alles gut und schön«, zeterte Kirsten, »aber vielleicht wache ich ja sehr früh auf, weil ich unter den Folterqualen eines entsetzlichen Alptraums leide, und dann brauche ich dich, um mich zu trösten, und dann rufe ich nach dir, und du bist nicht da! Ist das dann nicht eine Pflichtverletzung derjenigen gegenüber, der du soviel schuldest?«
    »Ich verspreche«, sagte Emilia, »daß ich meine Pflichten Euch gegenüber nicht vernachlässigen werde. Ich schwöre, daß Ihr nicht einmal merken werdet, wenn ich nicht da bin …«
    »Natürlich werde ich das merken! Warum sollte ich das denn nicht merken? Zugegeben, Emilia, du bist klein und manchmal fast wie ein Schatten, aber ich kann nicht behaupten, daß du je für mich unsichtbar gewesen wärst. Im Gegenteil, ich sehe dich nicht nur, sondern ich sehe auch in dich hinein. Vergiß das nie! Ich habe schon immer, von Anfang an, deine Gedanken gelesen. Und jetzt stelle ich fest, daß dir das kleine Gespenst von Bruder viel wichtiger ist als ich!«
    Emilia wußte, daß sie zwar dagegen protestieren konnte, dies aber vergeblich sein würde, weil Kirsten beschlossen hatte, wütend zu sein, weil sie das Bedürfnis hatte, wütend zu sein. Daher mußte der Ärger aus ihr heraus und war durch nichts aufzuhalten. Die Dienerschaft konnte noch zwei Stockwerke unter ihnen hören, wie Emilia angeschrien wurde. Vibeke Kruse wurde von den tränenreichen Anschuldigungen Kirstens, daß sie vernachlässigt und verraten würde, aus ihren Träumereien von einem Pasteten-Eßwettstreit gerissen.
    Emilia bemühte sich, sie friedlicher zu stimmen, doch die einzigen Worte, die Kirsten brauchte, waren die, die sie einforderte: »Sag, daß du Marcus nicht unterrichtest! Sag, daß du nicht ins Insektenzimmer gehst, um mit ihm zu malen! Auf Rosenborg hast du mit mir gemalt!«
    Doch Emilia wollte ihren Plan nicht aufgeben. Daher begann Kirsten zu schluchzen und vorzugeben, sie bekäme keine Luft, weil sie so schrecklich von ihrem Elend gewürgt würde. Emilia sah sich gezwungen, zu ihr hinzugehen und zu versuchen, die Arme um sie zu legen. Doch sie wurde so grob zurückgestoßen, daß sie auf eine Truhe fiel.
    »Komm mir nicht in die Nähe!« kreischte Kirsten. »Du bist wie alle anderen! Alle hassen und verachten mich und wollen mich ruiniert und tot sehen! O Mutter Gottes, wo ist Otto? Wo ist die einzige lebende Seele, die in ihrem Herzen Liebe für mich verspürt?«
    »Ich liebe Euch!« sagte Emilia sanft.
    »Aber nicht genug, denn sonst wärst du nicht auf die Idee gekommen, mich zu verlassen, um Bilder von Wespen zu malen und Geschichten von Schnecken oder was für schrecklichen Tieren immer, die dort über die Wände schleichen und krabbeln, zu erfinden!«
    Emilia wartete.
    Schließlich sagte Kirsten: »Ich bin mit einem Dämon in mir zur Welt gekommen. Ich bin selbst ein Insekt. Mein Stachel bringt mich noch um!«

    Emilia steht um sechs Uhr auf, wenn es noch dunkel ist und die Feuer auf Boller noch nicht angezündet worden sind. Für den Fall, daß Kirsten aufwacht und nach ihr ruft, holt sie ein Dienstmädchen in ihr Zimmer, bevor sie sich mit einer Lampe in der Hand zu Marcus auf den Weg macht. Sie arbeitet mit ihm, bis der Morgen dämmert und es Zeit wird, mit den üblichen Tagesverrichtungen zu beginnen.
    Er beklagt sich nie darüber, daß er so früh geweckt wird. Er scheint nicht einmal zu merken, daß es draußen noch dunkel ist. Mit seinem Maßstab berechnet er die Entfernung zwischen einem Schmetterling und dem Zweig, auf dem sich dieser niederlassen wird, oder zwischen einem Ohrwurm und der gelben Narzisse, in die dieser kriechen wird. Er zählt die Streifen der Wespe und Punkte der Marienkäfer, die Adern auf den Flügeln der Fliegen und die Beine des Tausendfüßlers. Er nennt die Farben der Blumen und die verschiedenen dafür gebräuchlichen Namen.
    Er beginnt sie abzumalen, anfangs hilflos, anscheinend ohne zu begreifen, warum seine Kohle so oft etwas Unbeabsichtigtes zeichnet und warum etwas, was man in Gedanken vor sich sieht, noch lange nicht auf dem Papier erscheint.
    Doch Emilia zeigt ihm, wie man vorgeht, ständig auf den Gegenstand blickt, ihn immer und immer wieder ansieht, so daß das Auge die Hand

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