Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
die Schultern.
»Ich kann nicht schlafen«, jammert Kirsten, »weil ich solche Seelenpein erleide. Einstmals warst du eine echte Freundin, doch du hast mich verlassen. Mir fallen die Haare aus! Ich bin im Fegefeuer, und du stehst daneben und wendest den Blick ab.«
»Nein …«, sagt Emilia. »Ihr tut mir leid …«
»Ich bin nicht daran interessiert, daß ich dir leid tue. Was habe ich davon? Dir hat auch das dumme Huhn ›leid‹ getan, und ich möchte behaupten, daß du mehr Zuneigung an es verschwendest als je an mich!«
In diesem Augenblick hören sie vor dem Zimmer eine Stimme. Es ist Marcus, der Emilia ruft – monoton wie immer: Emilia, Emilia, Emilia …
Kirsten Munk, die Gemahlin des Königs und Beinahe-Königin, springt in ihrer herrlichen Nacktheit, mit wildem Haar, Brustwarzen wie Beeren und ihrem feuerroten Busch aus dem Bett. »Geh weg!« schreit sie Marcus gellend an. »Geh zu deinen widerwärtigen Insekten! Geh und sei der Wurm, der du bist! Emilia ist meine Frau, und sie hat keine Zeit mehr für dich!«
Sie knallt die Tür zu. Sie hören, daß Marcus zu weinen beginnt, und Emilia versucht, an Kirsten vorbeizukommen, um ihn zu trösten. Doch ihr ist der Weg versperrt.
Und in diesem Augenblick spürt Kirsten, wie ihre Wut zerplatzt und in sich zusammenfällt. Sie streckt die Arme aus und zieht Emilia an den Schultern an ihre nackte Brust. Sie umklammert sie und bedeckt ihr Gesicht mit Küssen. Unter einer Flut von Tränen, so daß ihrer beider Gesichter ganz naß werden, sagt sie zu Emilia, sie sei nie das gewesen, wofür sie bestimmt war. Kirsten wird von ihrem Schluchzen fast erstickt, so tief steigt es aus ihr herauf. Doch sie ist auch voller Worte. Sie weiß nicht, welche Worte, welche Zärtlichkeiten, welche Tränenströme im Anzug sind, fühlt sie aber in sich aufwallen und hinabstürzen, so wie ein Fluß von der Lippe eines Wasserfalls. Und sie weiß, daß sie sich seit Tagen und Wochen nach dieser Erlösung gesehnt hat.
Emilia versucht sich aus der Umarmung zu befreien, doch da Kirsten sehr stark ist, gelingt es ihr nicht. Sie muß die Küsse und den Schwall der Beschuldigungen ertragen, muß auch zuhören, ohne ihre Ohren verschließen zu können, als Kirsten jetzt stammelt, Emilia sei dazu bestimmt, sie über den Verlust des Grafen hinwegzutrösten. Sie sei dazu bestimmt, ihre Frau zu sein und ihr Frauenliebe zu erweisen. Sie sei dazu bestimmt, ihr nachts Lieder vorzusingen, über den Kopf zu streichen, sich zu ihr zu legen und sie in die Arme zu nehmen. Sie sei dazu bestimmt, ihr in der Dunkelheit Geheimnisse ins Ohr zu flüstern und böse Geschichten zu erzählen, die Frauen nicht kennen sollten. Sie sei dazu bestimmt, sie auf den Mund zu küssen. Sie sei dazu bestimmt, die Geheimnisse des magischen Federkiels und dessen Wirkung auf gewisse Körperteile zu erlernen. Sie sei dazu bestimmt, Freude, Lachen, herrliche Gefühle der Ekstase und Liebe zu bringen, aber alles, was sie gebracht habe, sei ihr eigener Winter, eine unbarmherzige Kälte, eine unerträgliche Grauheit , eine Aura des Todes!
Schließlich läßt Kirsten Emilia los und stößt sie so heftig von sich, daß sie ihren Schal verliert. Die beiden Frauen starren sich an. Es ist ein Starren, das beide, Kirsten und Emilia, in Erinnerung behalten werden, solange sie leben. In dem Starren liegt das Begreifen, daß etwas Unverzeihliches geschehen ist, etwas, das niemals hätte geschehen dürfen, aber auch nicht mehr rückgängig gemacht werden kann und alles verändert hat.
Später am Nachmittag fährt eine Kutsche mit Emilia und Marcus und ihren wenigen Habseligkeiten, unter anderem Marcus’ Bildern und dem gesprenkelten Huhn Gerda, die Einfahrt hinunter und wendet sich an deren Ende nach links zum Tilsen-Anwesen. Niemand steht an der Tür, um ihnen nachzuwinken, und schon bald wird der Wagen von der Februardunkelheit verschluckt.
Über sein verlorenes Insekten-Königreich sagt Marcus: »Ich wurde allmählich so klein wie sie, Emilia, und hätte unter den Blättern gelebt.«
Als Emilia und Marcus am Haus der Tilsens ankommen, ist Johann gerade ausgeritten; Magdalena und Wilhelm sind allein in der Dachkammer.
Boris und Matti kommen aus dem Schulzimmer und starren erst Emilia und dann Marcus an, als seien sie Gespenster.
Emilia küßt Boris und Matti. Boris sagt zu Marcus: »Otto ist jetzt meine Katze.«
»Wo ist Vater?« fragt Emilia.
»Er glaubt, Marcus sei tot«, meint Matti. »Er sucht im Schnee nach ihm.«
»Und
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