Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Weiß zu bewegen und zu drehen.
Seine Magenschmerzen sind vergessen. Und einen seltsamen Augenblick lang, als der Mann von einem Bohrloch zum anderen läuft, sieht der König Bror Brorson vor sich, in braunem Samt, ein Knabe von zwölf, der weit ausholend und sportlich Schlittschuh läuft, schneller als alle anderen, der nie müde wird, noch da ist und über den See fährt, immer wieder aufs neue, als die Sonne untergeht, als ihn die Dämmerung zu einem Schatten werden läßt und die Nacht ihn auslöscht …
»Das Eis ist gut«, wird dem König berichtet, »es ist so dick wie vier Laibe Brot.«
Christian stößt einen Freudenschrei aus und ordnet an, alle mit Schlittschuhen zu versorgen, auch Signor Ponti, den Papierfabrikanten, und seine Tochter, die Gräfin. Während sich der König die wollene Mütze aufsetzt, die er immer trägt, um sein Gehör vor der Kälte zu schützen, macht im Schloß die Nachricht die Runde: »Das Schlittschuhlaufen kann beginnen!«
Der König zitiert Jens Ingemann herbei und sagt ihm, er solle darauf achten, daß sich die Musiker warm anziehen, da goldene Notenständer auf den See gebracht und in seiner Mitte aufgestellt werden. Beim Anblick der Notenständer fühlt sich der König wieder so zufrieden wie als Kind. Ihm gefällt es, wie sie aus dem gefrorenen Wasser herauszuwachsen scheinen, als habe dänisches Eis magische Eigenschaften und könne in seiner Tiefe an einem einzigen Februarmorgen Notenständer wie vergoldete junge Bäume herauskommen und sprießen lassen.
Signor Ponti blickt aufmerksam auf die Schlittschuhe an den Stiefeln, die man ihm gegeben hat, und schüttelt den Kopf. Zu Francesca sagt er: »Nein und nochmals nein! Ich soll mein ganzes Gewicht auf eine so schmale Kante legen? Ich bin Geschäftsmann und kein Narr!«
»Ach, Papa«, erwidert Francesca, die in den ersten Jahren ihrer Ehe mit Johnnie O’Fingal auf Cloynes Teichen Schlittschuh gelaufen ist, »du wirst überrascht sein, wie gut sie dich tragen. Du kannst dich ja am Anfang, bis du dich daran gewöhnt hast, an mir festhalten, und auf einmal bist du dann weg und gleitest davon.«
Doch Ponti ist nicht überzeugt. Er sagt, er wolle sich das erst einmal ansehen, und betet, daß seine Tochter nicht hinfällt und sich das Bein oder den Knöchel bricht. Er möchte nicht, daß sie humpelnd in ihre neue Zukunft startet.
Für Francesca ist die Aussicht, im Sonnenschein auf dem See Schlittschuh zu laufen, in Sichtweite ihres Geliebten, so daß sie seine Blicke auf sich spüren kann, so herrlich, daß sie es fast nicht erwarten kann, sich der Menschenmenge anzuschließen, die vom König angeführt zum See hinuntergeht. Sie legt ihren schwarzen Samtumhang an und setzt sich den Samthut auf. Als sie sich im Spiegel sieht, fragt sie sich, wie lange ihr ihre Schönheit noch erhalten bleiben wird.
Doch als sie am See ankommt, verdrängt sie diesen Gedanken. Sie ist eine Frau, die seit ihrem Leid mit O’Fingal entschlossen ist, glücklich zu sein. Es gibt jetzt nur den strahlenden Morgen, die Musik, die kaskadenartig in die Luft aufsteigt, das Schleifen der Schlittschuhkufen auf dem Eis, das ansteckende Lachen des Königs, die Schönheit Peter Claires und das Hochgefühl beim Laufen und Sichdrehen.
Peter Claire beobachtet beim Spielen, wie elegant die Dänen Schlittschuh laufen – als seien die Kufen Teil ihrer Füße. Sogar der Kanzler des Königs und die anderen älteren Angehörigen des Adels machen auf dem Eis einen wendigen Eindruck. Auch der König selbst, der jetzt so korpulent ist und allmählich etwas schwerfällig wird, wirkt plötzlich jünger und leichter.
Als die Musiker auf den zugefrorenen See gekommen waren, hatte Jens Ingemann ein zusammengefaltetes Stück Stoff aus der Tasche gezogen, es wie ein Zauberer mit einer Handbewegung in der Luft entfaltet und unter seine Füße gelegt, um nicht direkt auf dem glatten Eis zu stehen. Doch Peter Claire, Krenze, Rugieri und die übrigen müssen sehen, wie sie auf dem rutschigen Boden zurechtkommen; und man kann ihnen die Anspannung am Gesicht ablesen. Während sich die Schlittschuhläufer so sicher wie Tänzer bewegen, befinden sich die Musiker ständig in Gefahr, hinzufallen.
»Es sollte hier Stühle geben!« sagt Pasquier.
»Und Felle, damit unsere Füße warm bleiben!« fügt Rugieri hinzu.
Doch Jens Ingemann sagt nur spöttisch: »Stühle und Felle? Was seid ihr denn? Ein Haufen alter Tanten? Selbst der bockige Dowland verlangte nicht nach einem Stuhl
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