Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
suchen. Wenn er und Emilia auf den Wiesen spazierengehen, um zu sehen, wie der Frühling einkehrt, hält Marcus ständig nach Steinen Ausschau, um sie umzudrehen, weil er davon überzeugt ist, darunter Skorpione zu finden. Er ruft den unsichtbaren Skorpionen zu: »Kommt her zu mir und seid ganz still in meiner Hand. Ich bringe euch dann hin.«
»Wohin?« fragt Emilia.
»Auf Magdalenas Auge«, erwidert er.
Das Nahen des Frühlings erinnert Emilia daran, daß die Zeit, wenn ihr Leben zum Ausgangsort zurückgekehrt ist, heimlich fortschreitet.
Sie stellt sich vor, wie die Gärten von Rosenborg aus dem langen Winter auftauchen, und weiß, wie schnell der Sommer nach dem Frühling kommen kann, so daß es bald Tage wie jene, die sie mit Kirsten dort verbracht hat, geben könnte, an denen am Vogelhaus andere Liebende auf die herumflatternden Vögel blicken und Küsse von einer Art austauschen, die man nicht so schnell wieder vergißt.
Sie sagt sich, daß sie, wenn sie nicht unerträglich leiden will, versuchen muß, sich einzubilden, ihre Zeit auf Rosenborg habe es nie gegeben. Sie muß so tun, als sei sie nur ein Traum gewesen. Denn was unterscheidet etwas Vergangenes angesichts der Realität der Gegenwart schon von einer Illusion oder Phantasie? Es war einmal, ist aber nicht mehr , außer in der Erinnerung. Sollte die Erinnerung trügen, ist es dann nicht so, als wäre es überhaupt nicht gewesen? Darum bemüht sich Emilia nun – daß ihre Erinnerung verblaßt, daß alles, was mit Peter Claire zu tun hatte, trüb und dunkel wird.
Ihr Vater ist höflich zu ihr, manchmal sogar liebevoll, so wie damals, bevor Karen starb. Daher bringt sie eines Nachmittags, als Marcus draußen mit Boris und Matti herumreitet und sich Magdalena und Wilhelm nicht blicken lassen, ihre Uhr zu Johann.
Sie achtet darauf, daß diese immer sauber und poliert ist. Deshalb sieht sie aus wie eine einwandfrei funktionierende Uhr, außer daß die Zeiger auf zehn Minuten nach sieben stehengeblieben sind. Das ist die Zeit, die sie immer anzeigen wird. Johann blickt auf die Uhr, lächelt und nickt. Emilia wartet. Dann fragt sie zögernd: »Was ist um zehn Minuten nach sieben geschehen?«
»Da bist du geboren worden!« erwidert er.
Dann war es also ich , denkt sie nun, die im Wald begraben wurde. Nicht weil mich meine Mutter loswerden wollte, sondern vielmehr, weil sie mich für immer bei sich haben wollte. Sie wollte nicht, daß mich die Zeit ihr wegnimmt.
Und so fängt Emilia an, sich auf eine gewisse Weise mit ihrem Los abzufinden. Sie träumt nachts nicht mehr von Peter Claire oder von einer Zukunft, in der es ihn gibt. Statt dessen träumt sie wieder von Karen, und ihre Träume kommen ihr so wirklich vor, daß sie, wenn sie aufwacht, fast glaubt, wieder ein Kind zu sein und ihre merkwürdigen kleinen Lieder zu singen, während ihre Mutter lächelt und ihr sanft die Hand aufs Haar legt.
Woraus ist der Himmel, den ich seh’?
Manchmal ist er tanzender Schnee.
KIRSTEN: AUS IHREN PRIVATEN PAPIEREN
Ich bin allein.
In den Küchen und Korridoren von Boller gehen die Bediensteten hastig ihren Beschäftigungen nach, doch sie sind wie Mäuse, die man nicht sehen kann. Man stößt nur auf Dinge, die sie gemacht oder nicht gemacht haben, und schließt daraus, daß eine fröhliche Truppe heimlich am Werk war. Selbst diejenigen, die ich sehe, weil sie mich bei Tisch bedienen oder von mir mit einem sinnlosen Botengang beauftragt werden, verhalten sich mir gegenüber wie Gespenster, als hätte ich eine Krankheit, die sich allein dadurch, daß sie in meine Nähe kommen, auf sie übertragen könnte, und fliehen wieder, so schnell sie können.
Und so befinde ich mich nun in einem Haus voller Schatten und kann nur mit den Möbeln sprechen. Doch sogar diese scheinen sich wie die ganze Welt der unbelebten Dinge gegen mich verschworen zu haben, machen sich über mein Elend lustig und ärgern mich. Die Böden präsentieren sich sehr rutschig, so daß ich nun schon zweimal am Eingang zum Speisezimmer der Länge nach hingefallen bin, und die Feuer schicken Rauch in alle Räume, so daß ich würgen muß und nichts sehen kann. Doch die schlimmsten und gemeinsten Dinge sind die Spiegel an der Wand. Immer wenn ich an einem vorbeikomme, bringt er es zuwege, mich zu entstellen, so daß ich mich nicht so erblicke, wie ich weiß, daß ich bin – Beinahe-Königin und Geliebte des Grafen Otto Ludwig von Salm –, sondern eine mißmutige und plumpe Gestalt, die ich
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