Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Begeisterung über ihre Wahl fest, daß es sie plötzlich an ihren Bruder erinnert, an seine strahlenden Augen, die sie so lange nicht gesehen hat. Und sie spürt, wie ihr Glück ins Wanken gerät.
Zufrieden mit ihrem eigenen Los, hatte Charlotte nicht allzuoft an ihn gedacht, doch nun gerät sie seinetwegen in eine unerklärliche Panik. Ihm droht etwas Verheerendes, Schreckliches, dessen ist sie sich plötzlich ganz sicher. Sie kann sich nicht bewegen. Sie umklammert die Spitzenborte an ihrem Hals. Sie weiß, warum die schwarze Trauerrobe bestellt worden ist: wegen Peter.
Als die beiden Maler sehen, wie blaß sie geworden ist, legen sie die Pinsel aus der Hand und gehen zu ihr. Da der Raum bis auf die Leitern leer ist, helfen sie ihr, sich auf die unterste Stufe von einer zu setzen, während eiligst nach Mr. Middleton gesucht wird.
Dieser rennt den ganzen Weg von den Ställen und platzt keuchend herein. Er kniet neben ihr nieder und greift nach ihrer Hand. »Daisy, mein Liebes, was ist los? Oh, mein kleiner Liebling, wie blaß du bist! Charlotte, sag etwas …«
»Oh, George, etwas hat …«
»Ist es das Blau? Ist es dir doch zuwider? Du brauchst es mir nur zu sagen, dann wird es sofort geändert …«
»Nein, nicht direkt das Blau, sondern mehr das, was mir einfiel, als ich über das Blau nachdachte …«
Die Maler wischen mit Lappen die Farbe an ihren Händen ab und lassen George und Charlotte allein. Er legt die Arme um sie und drückt sie fest an sich, als sie ihm nun erzählt, daß sie soeben ganz sicher wußte: Ihr Bruder ist in Gefahr.
Wenn der bewundernswerte George Middleton einen Fehler hat, dann vielleicht den, daß es ihm an Neugier fehlt und er daher geistigen Dingen gegenüber, die er nicht versteht, nicht sehr tolerant ist. Die Vorstellung, seine Verlobte könnte etwas »wissen«, was hundert Meilen entfernt geschieht oder vielleicht überhaupt noch nicht geschehen ist, kommt ihm so unwahrscheinlich vor, daß er es schon fast ärgerlich findet, und so ruft er aus, ohne eigentlich schroff sein zu wollen: »Dummes Zeug, Daisy!«
Und dieses »dummes Zeug« (was Middleton eigentlich gar nicht unbedingt sagen wollte, was ihm aber nun mal herausrutschte) läßt Charlotte in Tränen ausbrechen. Wie schrecklich ist es doch, denkt sie, in einer Welt zu leben, in der sie Tragödien und Katastrophen vor sich sehen kann, ja deren Heranrücken sogar in ihrem Körper spüren kann, so daß dieser kalt und starr wird, doch bei dem Mann, den sie liebt, keinen Glauben findet. Sie entzieht sich der Wärme von Georges Armen und taumelt zum Fenster, wo sie den Kopf an die Scheibe legt und auch in der Parklandschaft nur Trostloses sieht.
George Middleton, der noch neben der Malerleiter kniet, ist ratlos. Er kann seine Daisy nicht am Fenster weinen lassen, doch was soll er sagen, damit er sie zwar einerseits davon überzeugt, daß sie sich mit ihrer Vorahnung täuscht, ihr aber andererseits gleichzeitig den Trost zuteil werden läßt, den sie braucht? Es ist schon sehr unangenehm, denkt er, wenn sich jemand ins Reich der Phantasie begibt. Es stört die Atmosphäre. Es macht Dinge kompliziert, die nicht kompliziert sein sollten. Und er hofft aufrichtig, daß Charlotte es nicht allzuoft tut, wenn sie erst verheiratet sind.
Aber er ist nun mal ein netter und praktischer Mann. So richtet er sich auf und geht rasch zu Charlotte hinüber, durch deren Weinen sich die Scheibe beschlagen hat. Sanft legt er ihr eine Hand auf die Schulter. »Mit meinem ›dummen Zeug‹ war ich zu voreilig«, sagt er. »Aber ich habe … Zweifel, wenn es um Vorahnungen geht, das ist alles. Doch hör mir nun mal zu, Charlotte! Laß uns jetzt zusammen in mein Arbeitszimmer gehen und an deinen Bruder in Dänemark einen Brief schreiben, in dem wir ihn bitten, zu unserer Hochzeit zu kommen. Komm, meine Herzallerliebste! Bald schon werden wir seine Antwort haben.«
Charlotte dreht sich nicht gleich um, sondern weint noch weiter, weil sie weiß, daß ihre Angst sehr tief sitzt und ihr nur genommen werden kann, wenn ihr Bruder gesund und munter in England eintrifft. Sie kann durch noch so viele Briefe nicht beschwichtigt werden. Und wenn George auch meint, ihre Angst sei fehlgeleitet, so wird sie dadurch nicht kleiner.
Dennoch haben Georges Nähe, sein Geruch nach Tabak und seine kräftige Gestalt wie immer einen fast magischen Einfluß auf sie. Sie kann sich nicht nicht umdrehen, um sich auf die Wange küssen und die Tränen von seiner großen,
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