Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
überraschen lassen soll – um ihm die letzte rasende Qual zuzufügen, die ihn (da er voraussehen kann, daß seine beiden nächsten Söhne Boris und Matti eines Tages den gleichen Weg wie ihre Brüder gehen werden) für immer in ihren Bann schlagen wird. Doch etwas hält sie zurück. Wenn sie das tut, ist es, als öffne sie die Tür eines Käfigs, ohne zu wissen, was in ihm ist, welche giftigen Schlangen, Geier mit schweren Flügeln und bösartigen Klauen oder Skorpione. Und so verhält sie sich still. Mindestens einmal in der Woche geht sie zu der rattenverseuchten Scheune. Sie backt weiterhin Kuchen, wobei sie sich von Boris und Matti helfen und die Finger ablecken läßt, wie immer schon. Sie betet, daß Marcus krank wird und stirbt. Und sie horcht auf die Veränderungen ihres Körpers, der ihr ungeborenes Kind zu nähren beginnt.
Marcus schläft in Emilias Zimmer.
Zu ihrer Überraschung scheint der Knabe seltsam froh darüber zu sein, seinen Vater zu sehen. Er fängt an, mit ihm in der Sprache zu reden, die er sich selbst ausgedacht hat, einer Sprache mit verschiedenen Stimmen, als beobachte er nicht nur die Dinge, über die er spricht, sondern sei zu ihnen geworden. Manchmal ist er der Regen.
Emilia erklärt Johann: »Marcus sieht die Welt von innen. Er kann sich vorstellen, wie es ist, eine Fliege, ein Vogel oder eine Feder zu sein. Deshalb kann er sich auch nicht lange konzentrieren. Er geht von der Sache aus, die er gerade sein will, und fängt daher immer wieder von neuem an.«
Wenn das Johann auch nicht logisch erscheint, so entschließt er sich doch, Emilias Rat zu folgen und Marcus nicht durch Worte oder mathematische Berechnungen auf dem Papier zu unterrichten, sondern durch Bilder.
Johann hat in seiner Bibliothek einen dicken Band, den ein dänischer Zoologe namens Jacob Falster verfaßt hat. Dieser war durch Amerika gereist und hatte dort die Tiere und ihre Behausungen auf Bildern und Stichen festgehalten. Das Buch hat den Titel Bilder aus der Neuen Welt. Nun legt sich Johann den schweren Band aufs Knie, zieht Marcus zu sich heran, und in einer neuen Zufriedenheit blättern die beiden die Seiten um und unterhalten sich über das, was sie sehen:
»Der Beutelwolf. Siehst du sein glänzendes Auge, Marcus?«
Marcus nickt.
»Er lebt in den Bergen, die Appalachen heißen.«
»Was ist das?«
»Berge?« Johann hebt beide Hände. »Land. Felsiges Land, das ansteigt, viel höher als Hügel, wo nichts wächst und das ganze Jahr über Schnee fällt.«
»Kalter Wolf ich friere in diesen Bergen.«
»Nein, das tust du nicht. Denn du hast ja den dicken Pelzmantel, nicht wahr? Dein Pelz hält dich warm.«
Marcus kuschelt sich in den Arm seines Vaters. Er streicht mit dem Finger über das Bild des Wolfs und blättert dann um.
»Grashüpfer!« meint er.
»Nein«, erwidert Johann. »Eine Heuschrecke. Sie sieht so ähnlich wie ein Grashüpfer aus, ist aber viel gefräßiger. Die amerikanischen Heuschrecken reisen in Schwärmen, Hunderte und Tausende davon in einer großen, grünen Wolke. Und dann kommen sie vielleicht herunter, wo ein Bauer Getreide oder Bohnen angebaut hat. Und was, denkst du wohl, passiert dann?«
»Hüpfen und hüpfen in den Bohnen …«
»Ja! Und was noch?«
»Machen zuviel Lärm in den Bohnen.«
»Ja! Zuviel Lärm! Aber noch etwas Schlimmeres. Denk daran, wie gefräßig die Heuschrecke ist! Glaubst du nicht, daß sie sich freut, in einem Bohnenfeld gelandet zu sein?«
»Die Bohnen aufessen sie alle aufessen eins zwei drei vier fünf sechs sieben?«
»Ja! Und der arme Bauer …«
»Oh, weinen!«
»Ja, weinen! Alle Bohnen weg!«
Marcus hält sich die Hände vors Gesicht. Johann fährt hastig fort. Auf der nächsten Seite ist ein Salamander abgebildet. Als Johann erzählt, daß es eine Eidechse ist, die im Feuer leben kann, wird Marcus ganz still, und Johann, der ihn im Arm hält, kann spüren, daß sein Körper mehrere Minuten lang wärmer ist.
Das amerikanische Buch beschäftigt Marcus sehr. Er möchte es jeden Tag sehen. Mit Emilia fertigt er dann, so wie im Insektenzimmer auf Boller, eigene Zeichnungen von den Tieren an, die er am liebsten mag – vom Borstenwurm, von der Schlupfwespe und Gespenstheuschrecke und vom Skorpion. Der Stachel des Skorpions scheint ihn ganz besonders zu faszinieren. Er malt diesen als Pfeil, der durch die Luft fliegt, manchmal auch als Stern. Daß man ihm gesagt hat, es gebe keine Skorpione in Dänemark, hindert ihn nicht daran, nach ihnen zu
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