Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Gustav von Schweden ein. Und dieses Dokument ist wie ein Gefängnis, das sich beim Lesen um mich herum aufbaut. Mir wird darin mitgeteilt, daß ich Boller nicht verlassen kann, um zu meinem Geliebten nach Schweden zu kommen, ganz gleich, welche Papiere ich auftreiben oder welch geheime Informationen über die Angelegenheiten des Königs ich seinem alten Feind anbieten kann.
Ich wundere mich über die Feigheit König Gustavs. Wäre nicht sein Siegel auf dem Brief, würde ich glauben, er sei von jemand anders geschrieben worden. Denn welche Unannehmlichkeiten würde ihm denn meine Anwesenheit in seinem Königreich verursachen, verglichen mit den großen Vorteilen, die ich ihm angeboten habe? Doch er weist mich entschieden zurück: Ich kann den König von Dänemark nicht derart vor den Kopf stoßen, daß ich Euch auf irgendeine Art eine sichere Einreise nach Schweden gewähre.
Oh, welche Heuchelei! Er (der den König von Dänemark bestimmt schon tausendmal vor den Kopf gestoßen hat, indem er sich über den Sundzoll beklagt und bittere Kämpfe und Kriege gegen dessen Land geführt hat) behauptet, er müsse in dieser Angelegenheit eine weiße Weste behalten, doch ich sage, daß sie nicht weiß, sondern gelb ist, und ich spucke auf ihn. Wäre ich die absolute und nicht nur die Beinahe-Königin, würde ich alles, was mir verblieben ist, verkaufen, um dafür Schiffe und Soldaten zu beschaffen und einen neuen Krieg gegen das Königreich Schweden anzuzetteln. Ich würde danach trachten, Gustavus Adolphus alles wegzunehmen, was er besitzt – so wie Gott Seinem Diener Hiob alles wegnahm –, damit er erfährt, was es bedeutet, verachtet zu werden und nichts zu haben, kein Vergnügen, eingesperrt in einem einsamen Haus mit speienden Feuern und Spiegeln, die höhnisch lachend zerbrechen.
Mir gehen die Listigkeiten aus. Das Leben ist eine Niete, eine Null, ein Minus.
Ich setze mich an meinen Sekretär und bitte den König, mir, die er einstmals seine Maus nannte, als letzte Gunst meine schwarzen Knaben zu schicken. Denn die kennen sich mit der Magie aus, dessen bin ich mir sicher. Sie sind die Kinder von Zauberern. Und das ist alles, was mir einfällt: daß ich durch das gefährliche Studium des Entzückens in der Welt wiederauferstehen könnte.
DAS MEERBLAUE BOUDOIR
Als Datum für Charlotte Claires Hochzeit mit Mr. George Middleton ist der 3 . Mai festgelegt worden.
Schon jetzt arbeiten die Näherinnen am Brautkleid und den Umhängen, Kleidern, steifen Unterröcken und der Unterwäsche, die auf der von Charlotte und ihrer Mutter angefertigten Liste stehen. George hat ihrer Aufstellung noch »eine schwarze Trauerrobe« hinzugefügt und sich auch nicht von Charlottes Protest davon abbringen lassen, daß es nicht wahrscheinlich sei, daß jemand, den sie kennen, gerade jetzt sterben würde. »Daisy«, meinte er und nahm dabei ihre Hand, »dein ›gerade jetzt‹ ist keine feste Einheit. Es handelt sich nicht um die Sonnenuhr, meine Liebste, sondern um den sich bewegenden, von der Sonne geworfenen Schatten.«
Sie geht oft nach Cookham, wo die Kälte des Winters noch im Morgenfrost und in den die friedliche Norfolk-Nacht störenden Stürmen hängt. Sie wird es nicht müde, mit George durch Haus und Garten, die Nebengebäude und den Park zu laufen. Wenn sie über die schöne Anordnung dieser Gebäude und die unvorstellbare, diese umschließende Grünfläche nachdenkt, kommt es ihr so vor, als werde sie die Erbin ganz Englands.
Ein großes Zimmer in der oberen Etage von Cookham Hall mit Blick nach Westen auf die dazugehörigen Wälder ist zu »Charlottes Boudoir« ernannt worden. Sie und George hatten zwar anfangs über diese Bezeichnung gelacht (»Bedeutet das nicht Schmollzimmer, George? Worüber sollte ich denn zu schmollen haben?«), doch im stillen ist Charlotte entzückt davon. Es fällt ihr nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie darin mit Mrs. G. Middleton unterzeichnete Briefe schreibt, ihre Tanzschritte übt, elegante Abendeinladungen plant, ihre Freunde oder ihre Mutter mit Tee und Kuchen bewirtet oder einfach nur dasitzt, ins Feuer blickt und von all den Tagen und Nächten träumt, die noch vor ihr liegen.
Sie hat den Malern gesagt, sie sollen das Boudoir blau streichen. Sie möchte das Blau der Luft und des Meeres, ein Blau, das weder dunkel noch blaß und hübsch empfänglich fürs Licht ist. Und nun macht dieses Blau Fortschritte, und Charlotte steht im Zimmer, blickt darauf und stellt mitten in der
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