Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
ein außergewöhnliches Phänomen sehen, wie ich es noch nie zuvor wahrgenommen habe.
Ich habe zu meinem Vater gesagt, ich sei sicher, daß die Luft in diesen Wäldern die lieblichste sei, die man einatmen könne, doch die Luft interessiert ihn nicht. Wenn er auf diese dunklen Wälder blickt, sieht er das schönste Papier, das er je hergestellt hat. Er denkt nur an seine neue Mühle, die vielleicht die rentabelste ganz Europas werden wird, und an sein Ponti Numero Uno , das man möglicherweise schon bald ausschließlich in den Salons zwischen Kopenhagen und London, zwischen Paris und Rom und so weiter verwenden wird.
Das Gelände, auf dem die Ponti-Papiermühle entstehen soll, ist ein so ausgezeichneter Platz, daß es fast schade ist, daß die Fabrik dort Wirklichkeit werden und nicht eine Vision meines Vaters bleiben soll. Denn ich weiß nur zu gut, daß die Vision einer Sache dieser selbst meist überlegen ist, weil in ihr das Neue mühelos auf das bereits Vorhandene gelegt und der ganze unschöne Zwischenzustand der Verwirklichung zweckmäßigerweise vernachlässigt wird.
Das Gelände grenzt an einen eilig von Nord nach Süd dahinziehenden Fluß, und die gefällten Bäume sollen von der Strömung zur Mühle getragen werden. Ich habe meinen Vater gefragt, wie sie im Winter schwimmen sollen, wenn der Fluß vielleicht zugefroren ist, doch das hatte er schon bedacht. Er erwiderte, die Bäume würden alle im Sommer gefällt und die Stämme in Scheunen gelagert, bis sie von den Ponti-Maschinen zu Brei vermahlen und als Blätter unvergleichlichen Papiers wiedererstehen würden. Er spricht darüber, als ginge all dies völlig lautlos und leicht vonstatten, als würden die Tannenstämme aus freien Stücken in den Fluß gleiten und sich wieder erheben, wie Soldaten, die tief und fest in ihrem Scheunenquartier schlafen, bis sie geweckt werden, um zum Ruhm des Namens Ponti aufzustehen.
Doch meinem lieben Papa gegenüber sage ich nichts dergleichen. Wir stehen am Flußufer, wo kleine Schneeflecken wie auf wunderbare Weise geteilte Kristalle im Gras liegen, und ich kann am anderen Ufer einen Reiher sehen, der uns beobachtet. Als diesen auch mein Vater bemerkt, meint er plötzlich: »Der Lautenspieler ist sehr charmant, Francesca, doch träume nicht davon, ihn zu heiraten! Heirate Sir Lawrence de Vere, dann seid ihr, du und die Kinder, für immer im Warmen und in Sicherheit!« Der Reiher fliegt mit einem Fisch im gelben Schnabel davon.
Wir haben uns in einem einfachen Gasthof einquartiert, wo der Wind durch die Wände pfeift und die Betten feucht sind.
Ich kann an diesem kalten und melancholischen Ort nicht schlafen und denke an meine Kinder, die so weit weg in Irland bei Lady Liscarroll und deren Falken sind. Und dann wandern meine Gedanken zu Johnnie O’Fingal in seinem Grab und wie traurig und merkwürdig doch sein Leiden war, schlimmer als das, was einem guten Menschen zugemutet werden sollte. Und die Angst vor all dem Unwägbaren im Leben breitet sich in mir aus wie ein Fieber in der Dunkelheit.
Meine Gedanken kehren zu dem zurück, was mein Vater am Flußufer zu mir gesagt hat, und ich muß gestehen, daß ich mich an diesem kalten, traurigen Ort nach einer gewissen Sicherheit sehne, nach einer Zukunft, die mir nicht entrissen wird.
Mir kommt Sir Lawrence de Vere mit seinen Feldern und Wäldern in Ballyclough und seiner schönen Sammlung holländischer Uhren in den Sinn. Er sieht mit neunundvierzig noch gut aus, riecht ein wenig nach Pfeffer, seine Hände sind kräftig und warm, und ich weiß, daß er sich danach sehnt, mein Beschützer zu sein. Ich gestehe, daß ich ihn noch nicht liebe, aber Liebe kann doch sicher manchmal in der Zukunft entstehen?
Ich verlasse mein feuchtes Bett, zünde eine Lampe an und nehme ein Musterblatt Numero Uno. Darauf schreibe ich sorgfältig, aber rasch, damit ich nicht in Versuchung gerate, meine Meinung zu ändern, den folgenden Brief:
An Sir Lawrence de Vere,
Ballyclough in Südirland
Mein lieber Sir Lawrence,
ich schreibe Euch aus dem nördlichen Teil Dänemarks, der Jütland heißt.
Ich bin von Wäldern umgeben. Das ganze Ausmaß dieser Wälder kann ich nicht ermessen, doch sie reichen von Horizont zu Horizont, und die Sonne hat am Morgen Schwierigkeiten, sich über die Baumkronen zu erheben, und scheint am Nachmittag einzig und allein daran zu denken, wieder in ihnen zu versinken, als seien die Wälder und nicht der Himmel ihr bevorzugter Aufenthaltsort oder aber ein
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