Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Käfig, in dem sie glaubt für immer leben zu müssen.
In einer solchen Gegend kann sich ein Mensch leicht verlaufen und sein Leben lang herumirren, ohne je gefunden zu werden. Und es ist dieser Gedanke, daß ich selbst für immer von diesen dunklen Hainen umschlossen sein könnte, wenn ich nicht dem für mich bestimmten Pfad folge, der mich jetzt veranlaßt, Euch zu schreiben.
Ihr habt mir damit, daß Ihr mich gebeten habt, Eure Frau zu werden, die höchste Ehre erwiesen. Daß ich um ein wenig Zeit bat, um mir meine Antwort zu überlegen, werdet Ihr bestimmt nicht für schlechtes Benehmen halten und daraus auch in keiner Weise Befürchtungen ablesen, daß ich Euch nicht lieben oder glücklich machen könnte. Ich bat um Zeit, um Euren Antrag in süßer Heimlichkeit auf meinen Reisen in Dänemark auszukosten, um mit ihm bei Tagesanbruch aufzuwachen und mich daran festzuhalten, wenn meine Kerze ausgeblasen ist und ich allein im Dunkeln liege.
Und so ist es gewesen. Euer Antrag war auf meiner Reise die ganze Zeit mein liebster Begleiter. Würde er jetzt zurückgezogen, sähe ich mich wahrhaftig wieder in jenen Zustand einsamen Unglücklichseins versetzt, den das menschliche Herz so schwer ertragen kann. Und daher bitte ich Euch, mein lieber Sir Lawrence, zieht ihn nicht zurück! Wiederholt ihn vielmehr noch einmal, damit ich jede hübsche Silbe davon ein zweites Mal hören kann, und dann werdet Ihr meine Antwort bekommen, und diese wird ja lauten.
Von Eurer Euch bewundernden Freundin
Francesca O’Fingal
Nach dem Schreiben des Briefs überfiel mich eine wunderbare Mattigkeit, und ich fiel trotz des Sturmgeheuls in einen so tiefen Schlaf, daß ich erst spät wieder daraus erwachte. Ich träumte von Irland. Ich träumte von den rosa Muscheln, die wie Babyzehen aussehen und an den Stränden von Cloyne zu finden sind.
BILDER AUS DER NEUEN WELT
Kaum ist Ulla entwöhnt, da merkt Magdalena Tilsen, daß sie wieder ein Kind erwartet. Sie weiß nicht, ob Johann oder sein Sohn Wilhelm der Vater ist.
Ihr ist klar, daß sie den Gipfel ihrer Waghalsigkeit erreicht hat. Seit Emilia und Marcus ins Haus zurückgekehrt sind, kann sie Wilhelm nicht mehr in die Dachkammer oder zu einem anderen Ort im Haus kommen lassen, nicht einmal in die Wäschekammer. Doch als sie ihm das sagt, erklärt er, er werde sie umbringen, wenn er nicht weiterhin Unzucht mit ihr treiben könne. Er besitzt ein Messer, und das werde er ihr in die Brust stoßen.
Er findet eine alte Scheune hinter den Obstfeldern, wo nichts mehr eingelagert ist, niemand hinkommt und die Ratten unter den Mauern quietschen. Dort ist es weder bequem noch warm, aber dunkel und verschwiegen. Es riecht nach Erde und den Ausscheidungen der Ratten, und was sich dort mit Magdalena abspielt, ist für Wilhelm aufregender als alles, was er je kennengelernt hat und noch kennenzulernen glaubt. Doch danach fühlt er sich elend, als Opfer eines äußeren Ereignisses, in dem sein Wille keine Rolle gespielt hat. Und es läßt sich nicht leugnen, daß er dünn wird. Das fällt sogar Johann auf, und er achtet nun darauf, daß Wilhelms Teller bei den Mahlzeiten vollgeladen wird.
Was Magdalena angeht, so behält sie erst einmal für sich, daß sie schwanger ist, weil sie sich vor Wilhelms Reaktion darauf fürchtet. Johann sperrt sie nicht mehr in der Speicherkammer ein und ist jetzt netter zu ihr als in der ersten Zeit nach Ingmars Abreise. Sie spürt jedoch, daß sich etwas anderes abspielt: Johanns Leidenschaft für sie läßt in einer Weise nach, daß es nicht bloß eine Periode des Nachlassens zu sein scheint, auf die, wie früher, eine des Wiederauflebens folgt, sondern vielmehr ein endgültiges und dauerhaftes Abkühlen.
Die Zeichen sind eindeutig. Früher konnte sie ihren Mann mit einem bloßen Wort oder Blick oder Rascheln des Rocks anlocken, doch nun sieht sie, wie er sich von diesen Ouvertüren abwendet. Sein Wunsch nach Alleinsein und Abgrenzung – schon immer in seiner Natur – scheint von Tag zu Tag stärker zu werden. Und wenn er nicht mit einer einsamen Aufgabe beschäftigt ist, wo findet man ihn dann, wenn nicht bei Emilia und Marcus? Karens Geist ist zurückgekehrt. Mit Wilhelm trotzt Magdalena Karen. Doch Magdalena begreift, daß ihre Vormachtstellung in diesem Haushalt ihren Höhepunkt überschritten hat und im Sinken begriffen ist.
Wenn in der Nacht Johann neben ihr schnarcht, fragt sie sich, ob sie noch eine letzte Karte ausspielen und sich von ihrem Mann mit Wilhelm
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